Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
vertraut, daß er jetzt sicher war, an diesem Ort schon einmal gewesen zu sein, und er hoffte, daß dort oben irgend etwas seinem Gedächtnis nachhelfen würde.
    Bald hatte er die Baumgrenze erreicht und blieb unter den breit ausladenden Zweigen einer zerzausten Fichte stehen. Vor ihm hob sich die gewölbte Kuppe aus dem Wald heraus, überwachsen von kurzem Gras, in dem zahllose Blumen und Kräuter blühten, sattgelbe Arnikasterne, tiefblauer Enzian, blutrote Steinnelken und zartviolette Polster von Thymian, dessen Duft unter der heißen Mittagssonne aufstieg. Ein Stück weiter rechts stand, ein paar Schritte vom Waldrand entfernt, in der Wiese eine alte Eberesche, in deren mit weißen Blütendolden behängten Zweigen sich die Bergdohlen niedergelassen hatten. Die Vögel hatten Jahr für Jahr wohl die Beeren verstreut; denn überall zwischen den dunklen Silhouetten der letzten Fichten hoben sich die Schößlinge mit ihrem hellgrün gefiederten Laub ab. Eine dieser jungen Ebereschen, noch kaum mannshoch, war nur wenige Schritte von der Stelle entfernt aufgeschossen, an der Steinauge stand. Er setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Fichte und blickte sich aufmerksam um.
    »Suchst du etwas?« fragte das Wiesel.
    »Meine verlorene Zeit«, sagte Steinauge. »Ich weiß genau, daß ich schon einmal an dieser Stelle gewesen bin. Irgend etwas Schreckliches ist hier passiert, und es hat mit dieser Eberesche zu tun.«
    »Das kann ich nicht glauben«, sagte das Wiesel. »Ebereschen sind gute Bäume. In ihrem Schatten kann nichts Schreckliches geschehen.«
    »Das mag schon sein«, sagte Steinauge. »Mein Großvater hat das auch behauptet. Und dennoch ist mir kalt vor Entsetzen, seit ich hier bin.«
    »Dann sollten wir rasch weitergehen, damit wir von diesem Platz fortkommen«, sagte das Wiesel.
    »Nein«, sagte Steinauge, »wenn ich noch eine Weile sitzenbleibe, fällt mir vielleicht doch noch ein, was ich hier erlebt habe.«
    »Ich weiß zwar nicht, was du dir davon versprichst«, sagte das Wiesel, »aber es liegt mir fern, dich davon abzuhalten. Ich für meinen Teil wäre froh, wenn ich schreckliche Erlebnisse vergessen könnte. Einstweilen will ich sehen, ob sich hier etwas fürs Abendessen auftreiben läßt.« Und damit huschte es davon und verschwand im Schatten der Bäume.
    Steinauge hatte Angst. Er wußte nicht wovor, aber das machte alles noch schlimmer. Da erinnerte er sich, daß es in solchen Fällen hilfreich war, den Stein anzuschauen. Er nahm ihn aus dem Beutel und hielt ihn auf der flachen Hand in die Sonne. Der Augenring strahlte auf und weitete sich jäh in einer ungeheuren Explosion von Farben, schön und erschreckend zugleich; das Gesicht, das sich früher schon oft aus dem Spiel der Kreise von Blau, Grün und Violett gelöst hatte, sprang unmittelbar hervor, die Augen geweitet, als drohe eine Gefahr, und die Frau rief: »Gib acht!« Doch im gleichen Augenblick rauschte schon etwas aus dem glasblauen Himmel hernieder, der Wind sirrte in gefiederten Schwingen, ein Schatten stürzte herab, und dann war der Stein verschwunden.
    Steinauge starrte auf seine leere Hand, auf deren Fläche er noch den Hieb eines scharfen Schnabels spürte. Dann blickte er auf und sah einen Falken mit raschen Flügelschlägen über der Bergwiese aufsteigen. Doch der Falke blieb nicht allein am Himmel. Sobald er über die alte Eberesche hinwegzog, flogen von den Ästen schreiend die Bergdohlen auf, vereinigten sich zu einem Schwarm und griffen den Falken an. Er versuchte, an Höhe zu gewinnen, aber die Dohlen waren nicht minder geschickte Flieger und hatten ihn bald eingekreist. Einzeln oder paarweise schossen sie heran und stießen mit ihren spitzen Schnäbeln nach dem Räuber. Es gelang ihm zunächst, immer wieder auszuweichen, doch er geriet zunehmend in Bedrängnis, zumal er seinen Schnabel nicht gebrauchen konnte, in dem er den Stein hielt.
    Dann sah Steinauge, wie der Falke zum ersten Mal getroffen wurde und mühsam sein Gleichgewicht hielt. Federn stäubten und segelten langsam kreisend herab, während der Falke seinen Verfolgern noch einmal entkam. Gleich darauf hatte der Schwarm ihn schon wieder umzingelt und begann das Spiel von neuem. Da hatte der Falke endlich begriffen, daß es um sein Leben ging, stieß in einem unerwarteten Angriff auf die Dohlen zu und traf eine von ihnen so schwer, daß sie inmitten eines Schwarms schwarzer Federn taumelnd zu Boden flatterte. Doch zugleich hatte der Falke in der Hitze des Kampfes

Weitere Kostenlose Bücher