Stein und Flöte
unvermittelt, Blüten ruckten, und von allen Seiten hörte man dünnes Pfeifen und Wispern. »Ich will meinen Vettern ein bißchen helfen«, sagte der Mäuserich und wendete sich zum Gehen.
»Soll ich mitkommen?« fragte Nadelzahn, doch der Mäuserich winkte ab und sagte: »Um Himmelswillen, nein! Dein Anblick könnte meine Vettern beunruhigen.« Dann huschte er davon.
Als er außer Hörweite war, sagte Nadelzahn: »Die vielen Mäuse machen mich ganz nervös.« In seinen Augen funkelte die Jagdlust, aber er beherrschte sich und blieb an Steinauges Seite liegen.
Es dauerte nicht lange, da war vom Berghang her ein schriller Pfiff zu hören. Hunderte von Mäusen strömten aus allen Richtungen an einer Stelle zusammen, daß die Wiese dort grau gefärbt war von ihren Pelzen, und dann kamen sie in langem Zug heruntergetrippelt zu Steinauges Lagerplatz, allen voran ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹, der den Augenstein vor sich herrollte. Er legte ihn seinem Freund zu Füßen und sagte: »Hier ist dein Kleinod. Es war uns ein Vergnügen, dir gefällig zu sein. Können wir sonst noch etwas für dich tun?«
»Ihr habt schon genug für mich getan; denn der Stein ist das Wertvollste, was ich besitze«, sagte Steinauge. Dann bedankte er sich mit vielen freundlichen Worten und sagte zum Schluß: »Jetzt lauft rasch wieder zurück in eure Löcher! Ich weiß nicht, wie lange Nadelzahn es noch aushalten wird, so viele Mäuse vor seiner Nase herumtanzen zu sehen.«
Dieser Hinweis war so wirkungsvoll, daß schon nach wenigen Augenblicken im weiten Umkreis keine Maus mehr zu erblicken war – mit Ausnahme von Steinauges Freund ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹. Der Mäuserich würdigte das Wiesel keines Blickes, verbeugte sich vor Steinauge und sagte: »Ich kann es mit meinem Namen nicht vereinbaren, mich derart würdelos zu entfernen, Träger des Steins. Du sollst von mir nicht glauben, daß ich vor diesem Wiesel davonlaufe.«
Steinauge verbeugte sich gleichfalls und antwortete ebenso ernst: »Ich kenne deinen Mut, ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹, aber ich werde dich sicher nicht für einen Feigling halten, wenn du um dein Leben läufst, sobald dir ein Starker an den Pelz will. Denke daran, um unserer Freundschaft willen!«
»Ich will mich daran halten«, sagte der Mäuserich, verneigte sich nochmals mit großem Anstand und schritt dann langsam über den Waldboden davon.
Danach hielt Steinauge nichts mehr an diesem Ort. Er wanderte mit Nadelzahn immer am Waldrand entlang rings um die Bergkuppe bis auf die andere Seite, und dort machten sie sich an den Abstieg ins Tal. Noch am Abend desselben Tages standen sie unten zwischen den letzten Bäumen und blickten hinaus auf die weiten, flachen Wiesen, durch die sich der Bach schlängelte. Auch diesmal weideten ein Stück weiter talabwärts ein paar Dutzend Pferde, aber Hirten waren keine zu sehen. Vielleicht saßen sie schon beim Abendessen; denn in der Ferne sah man aus einer der Hütten Rauch aufsteigen. Nadelzahn brauchte in dieser saftigen Niederung nicht lange, um einen Braten aufzutreiben, und nachdem sie gegessen hatten, legten sie sich im Gebüsch schlafen.
In den folgenden Tagen streiften sie am Talgrund entlang durch die Wälder. Steinauge sorgte stets dafür, daß er zwischen den Stämmen noch auf die Weiden hinausblicken konnte, denn er hoffte, endlich das Mädchen wieder zu treffen, wie ihm die Wasserfrau versprochen hatte. Aber außer ein paar Pferdehirten, die hin und wieder nach ihren Tieren sahen, konnte er sonst keinen Menschen entdecken. Zuweilen setzte er sich auch an einen verborgenen Platz zwischen den Büschen, von dem aus er das Tal überblicken konnte, und spielte auf seiner Weidenflöte. Nadelzahn hörte das gern und drückte ihm jedesmal in höflich gesetzten Worten seine Bewunderung aus, aber das war es wohl nicht, worauf Steinauge wartete.
So waren schon einige Wochen vergangen, als er wieder einmal am Waldrand zwischen Holunderstauden auf einem Baumstumpf saß und seiner Flöte alle möglichen Melodien entlockte, von denen er nicht hätte sagen können, woher er sie kannte. Er war so versunken in sein Spiel, daß er seine Umgebung vergaß und mit geschlossenen Augen den Tönen des Instruments nachlauschte. Als er seitwärts im Gebüsch ein Rascheln hörte, setzte er die Flöte ab und sagte, ohne sich umzusehen: »Hast du etwas zum Abendessen gebracht, Nadelzahn?«
Das Rascheln verstummte, und es kam auch keine Antwort. Erst jetzt öffnete er die
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