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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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von Zeit zu Zeit die Augen öffnete, sah ich anfangs noch, jedesmal etwas kleiner und verschwommener, die gezackten Silhouetten der Zelte über der endlosen Grasfläche; später war dann nichts mehr zu erkennen im flimmernden Dunst, der über der grauen Ebene waberte. Als die Sonne nur noch wenige Handbreit über dem Horizont stand, hielt der Reiter sein Pferd an, packte mich bei den Füßen und ließ mich kopfüber ins Gras stürzen. Dann ritt er wortlos davon.
    Das also war der langsame Tod, den Khan Hunli für mich bestimmt hatte. Ich wußte, daß weit im Westen, wo die untergehende Sonne rotglühend über dem flirrenden Steppengras hing, irgendwo Menschen wohnten, daß es dort Wasser gab und Bäume, die Schatten warfen, aber das alles lag unerreichbar fern, so daß selbst ein Reiter Tage brauchen würde, um dorthin zu gelangen. Trotzdem versuchte ich aufzustehen und nach Westen zu gehen, doch schon nach wenigen Schritten versagten meine Kräfte, und so lag ich dann bewegungslos im harten Gras und wartete auf die Nacht, auf Kühlung und vielleicht auch auf Tau, den ich von den scharfen, trockenen Halmen lecken konnte.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen habe. Zeitweise schwanden mir die Sinne, und ich dämmerte dahin, bis mich der Durst wieder weckte, aber auf den staubigen Gräsern fand ich keine Spur von Feuchtigkeit. Wenn ich den Kopf zur Seite drehte, sah ich über mir am schwarzen, mondlosen Himmel die eisigen Lichtpunkte der Sterne sich langsam weiterdrehen, als solle hier die Zeit abgemessen werden, die mir noch zum Leben verblieb.
    Dann stand plötzlich ein Schatten vor den Sternen und verdeckte sie zum Teil. Ich hatte weder eine Bewegung bemerkt noch das Rascheln von Tritten im Gras gehört; der Schatten war von einem zum anderen Augenblick aufgetaucht und verharrte eine Zeitlang bewegungslos neben der Stelle, an der ich lag. Und dann sagte eine Stimme: ›Ich habe dich gesucht, Wazzek.‹
    Da faßte ich den Schatten genauer ins Auge und sah, daß ein Reiter neben mir gehalten hatte. Im gleichen Augenblick tauchte der Mond hinter dem Horizont auf, und in seinem kalten Licht sah ich weiße Zöpfe an den Schläfen des Reiters hängen, seine Gesichtszüge lösten sich aus der Schwärze der Nacht, die Gesichtszüge Khan Hunlis, der hier auf seinem Pferd saß und auf mich herabblickte. Ich wunderte mich sehr, daß er mich beim Namen genannt hatte; denn das war sonst nicht seine Art, wenn er zu Sklaven sprach. Jetzt war er wohl gekommen, um mich zu töten, dachte ich, und es machte mir nicht mehr viel aus; denn ich hatte mich schon damit abgefunden, hier in der Steppe zu sterben. Es erstaunte mich, daß ich fast heiter gestimmt war in diesem Augenblick, und ich sagte: ›Du machst dir viel Mühe, Khan Hunli, um einen Sklaven sterben zu sehen.‹
    Da stieg der Reiter von seinem Pferd, beugte sich über mich und sagte: ›Du verwechselst mich mit meinem Bruder, Wazzek. Ich bin gekommen, weil ich die Sache, die der Erbe meines Steins dir eingebrockt hat, wenigstens insoweit in Ordnung bringen will, wie sie dich betrifft. Du selbst trägst an alledem keine Schuld. Was sonst noch daraus erwachsen mag, werde ich allerdings kaum verhindern können.‹
    Als ich erkannt hatte, daß es Arni war, der hier mit mir sprach, war ich sicher, daß ich die Grenze des Todes bereits überschritten hatte. ›Du erweist mir eine große Ehre, Arni‹, sagte ich, ›daß du mich in diesem Bereich empfängst, mich, der ich der Sklave deines Bruders war.‹
    Da lachte Arni leise in sich hinein und sagte: ›Wundert dich das, Wazzek? Den Leuten, die sich alle Ehre schon vorher genommen haben, braucht man sie nicht mehr anzubieten. Aber du hast dich ja um dergleichen bisher nicht sonderlich viel gekümmert.‹ Dann hob mich der alte Mann ohne viel Mühe vom Boden auf, daß ich mich über seine Kräfte wunderte, setzte mich vor den Sattel auf sein Pferd und stieg hinter mir auf. ›Sitzt du gut?‹ fragte er. ›Wir haben noch einen schnellen und weiten Ritt vor uns.‹
    ›Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so gut gesessen‹, sagte ich, und das war nicht übertrieben. Seit er mich berührt hatte, spürte ich keinerlei Schmerzen mehr, und ich lag in seinen Arm gelehnt wie ein Kind an der Brust seiner Mutter. Dann gab er dem Pferd die Sporen, und wir flogen über die Steppe dahin, daß das raschelnde Gras unter den Hufen dahinschoß wie die reißende Strömung eines Flusses. Zu diesem Zeitpunkt wunderte ich mich über nichts

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