Stein und Flöte
fragte sich, was das zu bedeuten habe. Er tastete sich hinunter zum Höhlengrund und kroch durch das Schlupfloch hinaus. Draußen begann eben der Morgen zu dämmern. Am grauen Himmel über den hohen Kronen der Buchen am Waldrand kreiste ein riesiger Schwarm der schwarzen Vögel. Ihr heiseres Geschrei tötete jeden anderen Laut, und als der Schwarm in weitem Bogen herüberflog und die Felswand überquerte, konnte Steinauge verstehen, was sie schrien:
Fraß! Fraß!
Sammelt euch zum Fraß!
Die Beutereiter sind auf der Jagd!
Leichen liegen im Gras,
erschlagen Knecht und Magd!
Fleisch im Übermaß!
Kommt, eh der Morgen tagt!
Sammelt euch zum Fraß!
Fraß! Fraß!
Die Krähen beschrieben noch einmal einen weiten Kreis über dem Abhang vor der Höhle, als wollten sie auch Steinauge zu dem Schmaus einladen, und zogen dann nach Süden davon. Auch als der Schwarm schon wie eine düstere Wolke fern über den Bäumen schwankte, hörte Steinauge noch das Geschrei. »Fraß! Fraß!« hallte es herüber, und er meinte, diesen Schrei noch immer zu hören, als der Schwarm schon längst nicht mehr zu sehen war.
Er ahnte, wohin die Krähen unterwegs waren: Irgendwo im Süden lag die Ansiedlung von Arnis Leuten, und er fragte sich, ob Hunlis Reiter erst auf dem Wege waren, um Narzia ihre Demütigung heimzuzahlen, oder ob für die schwarzen Vögel dort schon der Fraß bereitet war. Und jetzt wußte er auch, was er zu tun hatte: Er mußte nach Süden laufen, um Arnis Leute zu warnen. Wenn er seine Flöte erst wieder in den Händen hatte, würde er die Reiter zur Umkehr zwingen können. Er stürzte zurück in die Höhle, packte seine Ziegenhaartasche und raffte in fliegender Hast alles hinein, was er unterwegs brauchen könnte, sein Messer, das Feuerzeug und den Rest seiner Haselnüsse. Dann griff er sich den Zirbelstock und sprang in weiten Sätzen den Abhang hinunter und weiter durch den Hochwald immer nach Süden. Während er sich durch das Unterholz schlug, überholten ihn oben über den Baumkronen immer neue Schwärme von Krähen und krächzten ihr gieriges Lied. »Fraß! Fraß!« gellte es ihm den ganzen Tag lang in den Ohren, selbst dann noch, als schon wieder die Nacht hereingebrochen war und er sich erschöpft und mit zitternden Gliedern ins Gebüsch verkrochen hatte.
Fünf Tage lang war er auf diese Weise unterwegs, ständig gehetzt vom Geschrei der schwarzen Vögel, die ihn vor sich hertrieben, bis er sie oben über den mit dicken Frühjahrsknospen besteckten Zweigen der Buchen hinwegziehen sah. Als er dann am Morgen des sechsten Tages aus seinem Schlafversteck herauskroch, lag vor ihm ein lichter Bestand von Birken, an deren haarfeinem Zweiggespinst sich winzige hellgrüne Blättchen entfalteten. Und zwischen den weißschimmernden Stämmen blickte er hinaus in eine endlose, graugrün flimmernde Ebene. Er hatte endlich den Rand der Steppe erreicht. Und ein Stück nach Süden, wo das Buschwerk weiter in die Steppe hinausreichte, kreiste ein riesiger Schwarm von Krähen um den Rauch, der in den blassen Morgenhimmel stieg. Dort in den graubraunen Blockhäusern, die dunkel zwischen den Birken und Erlen hingelagert waren, kochten Arnis Leute ihre Morgensuppe.
Zunächst atmete er erleichtert auf. Die Beutereiter waren offenkundig noch nicht über die Ansiedlung hergefallen. Er brauchte nur noch hinüberzulaufen und Arnis Leute zu warnen. Bei diesem Gedanken überfiel ihn wieder die Angst, bei hellichtem Tag in seiner böckischen Mißgestalt vor die Augen der Leute zu treten. Das Geschrei der Krähen brandete von Zeit zu Zeit zu ihm herüber, dann strich wieder ein neuer Schwarm heran, und das »Fraß! Fraß!« gellte Steinauge in den Ohren. Waren die Leute in den Hütten denn taub? Ahnten sie nicht, worauf dieses schwarze, gierige Heer wartete? Anscheinend kümmerte sich niemand um die aufgeregt durcheinanderschwirrenden Vögel, deren Wolke den Himmel über den Dächern verdunkelte; keiner trat vor das Haus, nirgends sah Steinauge Leute zusammenlaufen. Da erkannte er, daß die Krähen, deren Geschrei an seinen Nerven zerrte, ihm diese Arbeit nicht abnehmen würden. Er mußte schon selber hinüberlaufen, um die Leute aus ihren Hütten zu rufen.
Von Baum zu Baum schlich er am Waldrand entlang auf die Ansiedlung zu, bis das Geschrei der hungrigen Aasfresser über ihm in der Luft stand wie tosende Meeresbrandung. Jetzt entdeckten ihn die Vögel und pfeilten kreischend in Gruppen zwischen den Stämmen hindurch dicht über den
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