Stein und Flöte
herrlich sein, als Falke über die Steppe zu fliegen!« rief Belenika. »Dafür gebe ich gern ein Stück meines Lebens hin!«
Der Meister betrachtete sie lächelnd. »Dir fällt es leicht, ein paar Wochen herzuschenken«, sagte er. »Ich selber habe schon lange damit angefangen, meine Tage zu zählen. Nun muß ich dir noch ein letztes sagen. Ich habe dir von der Gefährlichkeit dieser Kette berichtet, damit du dich jetzt entscheidest, ob du sie tragen willst. Du kannst noch immer von dieser Aufgabe zurücktreten – und dennoch deinem Höni in die Zelte der Beutereiter folgen«, fügte er lächelnd hinzu. Dann wurde er sogleich wieder ernst und fuhr fort: »Wenn du dich aber dazu bereit findest, dem Großen Haus von Falkenor auf solche Weise zu dienen, wirst du alle Warnungen vergessen, die ich hier ausgesprochen habe, und nur noch dem folgen können, was du für gut und richtig hältst. Fühlst du dich dazu imstande?«
Belenika bedachte sich eine Weile, dann hob sie den Kopf und sagte: »Ja, ich will diese Aufgabe übernehmen. So viel habe ich in meinem kurzen Leben schon gelernt, daß man bei dem, was man tut, nicht nach dem eigenen Nutzen fragen soll, sondern danach, was man damit anderen an Gutem oder Bösem zufügt.«
»Von der Tochter Wendikars habe ich das nicht anders erwartet«, sagte der Meister. »Nun wollen wir uns an die Arbeit machen.« Er nahm Belenika das Verschlußstück aus der Hand, löste die beiden Teile voneinander und fügte sie an die Enden der Kette an. »Nun mußt du mir helfen«, sagte er dann, »denn ich fürchte, es könnte über meine Kraft gehen, meinen Willen in diesen goldenen Vogel zu zwingen.«
Er bat das Mädchen aufzustehen und erhob sich selbst mühsam von seinem Arbeitssessel. Nun ließ er den Falken wieder auf dem Handschuh Platz nehmen, so daß die Kette geschlossen war, und forderte Belenika auf, beide Hände um den Verschluß zu legen, und dann umspannte er ihre Hände mit seinen schmalen, kunstfertigen Fingern.
»Was soll ich jetzt tun?« fragte Belenika.
»Gar nichts«, sagte der Meister. »Überlasse mir nur deinen Willen und die Kraft deiner Jugend und rede jetzt nicht mehr.«
Eine Zeitlang standen beide nebeneinander, ohne daß irgend etwas Auffälliges zu bemerken war, ein junges Mädchen und ein alter Mann, deren ineinander verschlungene Hände eine goldene Kette hielten, sonst nichts. Doch dann trat allmählich eine Wandlung ein, zunächst kaum spürbar, doch rasch zunehmend, daß sie bald nicht mehr zu übersehen war: Das fahle, eingefallene Gesicht des Alten begann sich zu röten, seine Züge wurden straffer, und zugleich schien seine Gestalt sich aufzurichten und zu wachsen, als werde er zusehends um Jahrzehnte jünger, während dem Mädchen die Farbe aus den Wangen wich und es schließlich so aussah, als werde seine zerbrechliche Gestalt nur noch durch die Kraft des Meisters aufrecht gehalten. Und dann begann der Meister mit klarer, kräftiger Stimme zu sprechen:
Falkenors Zeichen,
wer die Fessel dir löst,
soll dir gleichen,
tut er’s zum Guten,
soll er’s erreichen,
tut er’s zum Bösen,
soll das Glück von ihm weichen.
Er hatte diese Worte so laut gesprochen, daß die Kristallschale neben der Tür bebte. Ihr summender Ton füllte den Raum für lange Zeit, und erst, als er verklungen war, löste der Meister seinen Griff von den Händen Belenikas. Im gleichen Augenblick wich alle Kraft aus seiner Gestalt, seine Haut war bleich und fleckig wie zuvor, seine Wangen verfielen, er wankte und drohte zusammenzubrechen. Belenika gelang es eben noch, ihn in ihren Armen aufzufangen. Sie wollte ihn in seinen Sessel gleiten lassen, aber er schüttelte den Kopf und sagte mit schon versagender Stimme: »Nein …, halte mich fest, Belenika, und laß mich stehend sterben. Es ist schön, in diesem Augenblick noch einmal in den Armen eines Mädchens zu liegen.« Dann sank sein Kopf nach vorn, und sein Körper erschlaffte. Als ihn Belenika schließlich auf seinen Sessel bettete, waren seine Augen schon gebrochen.
Offenbar war es ein riskantes Geschäft, solche Zauberdinge herzustellen. Dieser alte Meister der Steine hatte es jedenfalls mit seinem Leben bezahlt, und der Umgang mit derartigen Gegenständen blieb auch weiterhin für jeden, der sich ihrer bediente, mit Gefahren verknüpft. Das schien ihm schwer verständlich. Wie konnte einer, der dem Guten dienen wollte, zugleich die Möglichkeit des Bösen zulassen? Machte er sich nicht mitschuldig an allem, was
Weitere Kostenlose Bücher