Stein und Flöte
Spalt zwischen den herabhängenden Teppichwänden. Belenika setzte sich auf ein Kissen an der Seite des Raumes, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Auf ihrer Stirn stand eine steile Falte, wie bei jemandem, den eine schwierige Frage beschäftigt, von der viel abhängt. So saß sie eine ganze Weile, während das wenige Licht, das durch die Öffnung im Zeltdach hereinfiel, immer schwächer wurde. Dann bewegte sich der Vorhang, und ein Mädchen kam herein. Es war schon so dunkel im Zelt, daß man ihr Gesicht nicht erkennen konnte.
»Da bist du ja, Mutter«, sagte das Mädchen. »Ich habe gar nicht bemerkt, daß du zurückgekommen bist. Soll ich dir Licht bringen?«
»Ja«, sagte Belenika.
Das Mädchen griff nach einer Öllampe, hakte sie von der Kette los, an der sie von der Spitze einer Zeltstange herabhing, und verließ mit ihr den Raum. Gleich darauf kam es mit der brennenden Lampe zurück und hängte sie wieder an ihren Platz. Während es mit der Lampe hantierte und das Licht auf seine Züge fiel, erkannte er, daß es Narzia war. Sie setzte sich neben ihre Mutter und blickte ihr forschend ins Gesicht. »Das ist sonderbar«, sagte sie. »Ich habe dich vorhin hier gesucht, aber es war nur deine Dienerin hier. Dann habe ich mich die ganze Zeit über im Zelt aufgehalten, um auf deine Rückkehr zu warten, aber du bist nicht gekommen. Und nun bist du doch hier.«
»Vielleicht hast du nicht achtgegeben«, sagte Belenika.
»Doch«, sagte Narzia, »das habe ich. Und ich glaube, ich weiß jetzt auch, auf welchem Weg du dich hereingeschlichen hast.«
»So?« sagte Belenika, und auf ihrer Stirn stand jetzt wieder diese steile Falte.
»Ja«, sagte Narzia eifrig. »Ich weiß ja, daß du zu Hause in Falkenor allerlei Zauberkünste gelernt hast. Es war außerdem nicht das erste Mal, daß ich dich vermißt habe, und dann warst du doch auf irgendeine Weise plötzlich in diesem Raum. Einmal warst du, als ich bei einer solchen Gelegenheit hereinkam, gerade damit beschäftigt, eine Kette in dem Kästchen zu verschließen, das dort drüben bei deinen Sachen steht. Ich konnte noch einen Blick auf die Kette werfen: Sie bestand aus kleinen, goldenen Falken. Und da ist mir eingefallen, daß ich ein anderes Mal einen Falken ums Zelt habe fliegen sehen, als ich dich suchte, und gleich darauf warst du hier bei deiner Dienerin. Seither glaube ich, daß du dich auf die Kunst verstehst, mit Hilfe dieser Kette das Lager als Falke zu verlassen und hoch oben am Himmel zu fliegen.«
Belenika atmete tief aus und sagte dann: »Und wenn es so wäre, dann wäre es doch besser, du hättest nichts gesehen, Narzia. Es ist gefährlich, solche Dinge zu wissen, und noch gefährlicher, über sie zu reden. Du solltest künftig diese Vermutungen für dich behalten und nicht einmal zu mir darüber sprechen.«
»Ach Mutter«, sagte Narzia, »du kannst dich darauf verlassen, daß ich mit keinem anderen außer dir darüber sprechen werde. Aber seit mir diese Vermutung gekommen ist, stelle ich mir immer wieder vor, wie herrlich es sein muß, als Falke hoch oben zwischen den Wolken zu schweben und die Steppe unter sich liegen zu sehen wie einen Teppich, der nach allen Seiten ohne Ende ist. Willst du mir nicht ein einziges Mal erlauben, dieses wunderbare Gefühl wirklich zu erleben? Es gibt nichts, das ich mir mehr wünsche!«
»Nein!« sagte Belenika unvermutet schroff. »Du weißt nicht, wovon du sprichst. Was du dir da zusammengereimt hast, bereitet mir schon genug Sorgen, und damit meine ich vor allem die Vorstellungen, die du dir von dergleichen Dingen machst. Ich will gar nicht abstreiten, daß so etwas möglich wäre, aber du solltest wissen, daß solche Zauberdinge nicht dazu geschaffen werden, damit andere ihr Vergnügen damit haben. Sie sind kein Spielzeug, und es bedeutet eine schwere Verantwortung, wenn einem ein solcher Gegenstand anvertraut wurde. Vergiß dies alles! Ich will nie wieder ein Wort darüber hören!«
Es war Narzia deutlich anzumerken, daß sie nicht imstande sein würde, diese Sache zu vergessen. Auf ihrer Stirn stand jetzt die gleiche steile Falte wie zuvor bei ihrer Mutter. Eine Zeitlang saßen beide schweigend nebeneinander. Dann legte Belenika ihre Hand auf den Arm des Mädchens, aber es beantwortete diese Geste auf keinerlei Weise. Dann hörte man hinter dem Teppichvorhang eine Männerstimme laut und herrisch nach Belenika fragen. Da stand sie auf, schlug den Vorhang zurück und verließ die Kammer.
»Da bist du ja«,
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