Stein und Flöte
mit Hilfe seiner Kunst später an Unheil angerichtet wurde? Er erinnerte sich daran, was dieses Falkenmädchen, das man Narzia nannte, anderen Menschen angetan hatte. Außer dieser Kette hatte sie dazu auch noch ihren Falkenring benutzt, aber er war mittlerweile überzeugt davon, daß auch dieser Ring auf ähnliche Weise zugleich Segen und Fluch in seiner Rundung umschloß. Sogar die Kleinen und Schwachen hatten darum gewußt wie dieser junge Mäuserich ›Der-dem-Falken-weissagt‹.
Wie war diese Narzia überhaupt zu der Kette gekommen? Vielleicht ist sie die Tochter Belenikas, dachte er, und es fiel ihm schon gar nicht mehr auf, daß er Ereignisse fast gleichzeitig erlebte, die eigentlich um viele Jahre auseinanderliegen mußten. Viel mehr beschäftigte ihn die Frage, ob Narzia um die Gefahren gewußt habe, die mit dem Mißbrauch solcher Zauberdinge verknüpft waren. Doch je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher erkannte er, daß dies nicht die Frage war, auf die es letztlich ankam, und zugleich begriff er auch, warum Belenika all die Warnungen des Meisters wieder hatte vergessen müssen. Was war es schon wert, wenn einer nur deshalb vor bösen Taten zurückschreckt, weil er weiß, daß er damit sich selber ins Verderben bringt. Er tat ja das Gute nicht um des Guten willen, sondern nur aus Eigennutz. Und nun verstand er auf einmal die Weisheit des alten Meisters. Er wollte Belenika nicht zur Sklavin machen, indem er sie zum Guten zwang, sondern ihr alle Freiheit der eigenen Entscheidung lassen, wie sie von der Macht, die ihr die Zauberkette verlieh, Gebrauch machen wollte. Der Meister schien viel von ihr gehalten zu haben, daß er ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte. Oder stand er selbst unter einem Gesetz, nach dem es ihm nicht erlaubt war, die Freiheit eines Menschen auf solche Weise einzuschränken? Dann hätte er jedoch selber unter einer Art von Zwang gestanden, und das schien nicht seinem Wesen zu entsprechen. Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm, daß dieser Kleinmagier überhaupt nicht anders mit Menschen umgehen konnte, als daß er ihnen das Gute zutraute.
Ob Belenika seine Hoffnungen erfüllt hatte? Die Frage beschäftigte ihn derart, daß er alsbald einen Falken hoch über der Steppe nach Norden fliegen sah. Der Vogel schoß pfeilschnell am stahlblauen Abendhimmel dahin, so daß kein Zweifel bestand, daß er einem Ziel zustrebte, das sich schon in der Ferne auf der rötlich unter der tiefstehenden Sonne schimmernden Steppe abzeichnete, eine Ansammlung dunkler Zelte, neben der in einer weiten Koppel zahllose Pferde grasten. Der Falke glitt tiefer, überflog eine Gruppe von Reitern, von denen einer zu ihm heraufschaute und seinem Flug mit den Augen folgte. Dann spornte er sein Pferd an und ritt, von den andern gefolgt, auf das Lager zu. Der Falke schoß inzwischen schon dicht über dem Boden dahin, tauchte in den langen Schatten des ersten Zeltes, als wolle er sich vor neugierigen Blicken verbergen, kurvte weiter zwischen den nächsten Zelten hindurch bis zu einem besonders großen, reich ausgestatteten, schwang sich auf der Schattenseite noch einmal in die Höhe und schlüpfte durch eine kleine Öffnung im Zeltdach.
Er schaute von der Höhe hinab in eine kleine, durch Teppiche abgeteilte Kammer, in der eine Dienerin über einer Stickarbeit saß. Als sie das Flattern des Falken am Zeltdach hörte, blickte sie hinauf, legte ohne sonderliche Überraschung ihre Arbeit beiseite und nahm ein seidenes Tuch vom Boden auf, das dort in der Mitte des Raumes ausgebreitet war. Darunter lag zu einem Kreis geschlossen die goldene Kette. Als der Falke herabflatterte, hob die Dienerin die Kette an einer Seite ein wenig hoch, der Falke glitt mit seinem schmalen Kopf darunter, und im nächsten Augenblick stand dort an seiner Stelle eine Frau, die offenkundig Belenika war, wenn sie auch beträchtlich älter zu sein schien als jenes Mädchen, das neben dem Meister der Steine in dessen Werkstatt gesessen hatte. Sie ließ ihre Finger über den Verschluß gleiten, öffnete die Kette und verwahrte sie in einem geschnitzten Kästchen, das sie sorgfältig abschloß. Den Schlüssel hängte sie an einem Band um den Hals und verbarg ihn unter ihrem Gewand. Dann wendete sie sich der Dienerin zu und sagte: »Ich danke dir, daß du wie immer für mich gewacht hast. Du kannst gehen. Ich brauche dich heute nicht mehr.«
Die Dienerin verbeugte sich stumm und verließ den Raum durch einen
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