Stein und Flöte
selbst war, die hier dem kleinen Mädchen diese Geschichte erzählt hatte.
Das Mädchen schaute jetzt hinüber zu den beiden Statuen, und da wurde ihm bewußt, daß auch dieses Kind diese Augen geerbt hatte. »Ob sich auch die beiden, die hier am Brunnen stehen, noch einmal finden?« fragte es.
»Warum nicht?« sagte die alte Frau. »Es gibt ein Lied, das ich von meiner Großmutter gelernt habe, und das gut auf diesen versteinerten Faun paßt. Hör gut zu! Vielleicht kannst du es später einmal, wenn du selber eine alte Frau geworden bist, deiner Enkelin weitergeben:
Haust einer im Wald,
weiß nicht wer.
Haust einer im Wald,
seine Haut ist von Stein,
sein Mund kann nicht schrein,
und sein Leib ist kalt,
als lebt’ er nicht mehr,
weiß nicht wer.«
Während die alte Frau mit ihrer zittrigen Greisenstimme sang, war es ihm, als begleite von ferne her eine Flöte ihr Lied, ein süßer, silbriger Klang, der ihrem Gesang Zusammenhang und Kraft verlieh, und als sie mit der zweiten Strophe begann, tönte ihre Stimme schon voller und klarer:
Steht einer im Moos,
weiß nicht wo.
Steht einer im Moos,
und regt sich nicht,
mit starrem Gesicht
und zottigem Schoß,
ist nicht traurig, nicht froh,
weiß nicht wo.
Von Zeile zu Zeile nahm der Gesang an Klangfülle und Deutlichkeit zu, als käme die Sängerin Schritt für Schritt näher, während die alte Frau doch noch immer neben dem Kind auf der Bank am Springbrunnen saß. Aber je genauer er hinschaute, desto unschärfer erschienen ihm die Umrisse der beiden, ihre Gestalten wurden durchsichtig wie auch die Konturen der Bank und der beschnittenen Eibensträucher dahinter, bis all das mit dem regellosen grünen Hintergrund der Erlen und Birken verschmolz. Doch der Gesang verstummte nicht mit dem Schwinden dieses Bildes, sondern war nun ganz nah:
Wartet einer am Quell,
weiß nicht wann.
Wartet einer am Quell,
daß eine ihn weckt,
die Hand nach ihm streckt
und krault sein Fell
und löst seinen Bann,
weiß nicht wann.
Und bei den letzten Worten regte sich das Erlengebüsch, wurde von einem Arm geteilt und beiseite geschoben, und zwischen den wippenden Zweigen trat eine junge Frau heraus, die in der Hand eine silberne Flöte hielt. Schon auf den ersten Blick sah er die Augen dieser Frau oder sah eigentlich nichts anderes als diese Augen, die den Augen dieser alten Geschichtenerzählerin glichen oder auch den Augen Urlas, als sie ihn in ihrer Hütte bewirtet hatte.
Die Frau blickte ängstlich nach oben in die Zweige der Bäume, als lauere dort irgendeine Gefahr, kam dann mit flinken Schritten am Bachlauf entlang näher und blieb erst am Quellteich wieder stehen, um sich niederzubeugen und mit der hohlen Hand Wasser zu schöpfen. Er sah, wie sie sich herabneigte und die Hand in den Teich tauchte, und zugleich konnte er auch das wellig zerfließende Spiegelbild erkennen, das sich der Frau aus der Tiefe entgegenhob, das Gesicht im flimmernden Wasser wurde deutlicher, schien greifbar nahe unter der Oberfläche schweben, und als sich die Hände der beiden berührten, trafen die Augen dieses Wasserwesens seinen Blick. Ihm war zumute, als schmelze das Gestein in seiner Brust unter der Wärme dieser Augen, deren dunkle Farben sich wie ruhig ziehende Wellenringe in seinem Innern ausbreiteten. Dann hob die Frau, die sich über das Wasser gebeugt hatte, den Kopf und schaute ihm direkt ins Gesicht. »Da bist du ja, du steinerner Faun! Habe ich dich endlich gefunden!« sagte sie, stand auf und kam langsam am Rand des Quellteichs entlang zu ihm herüber. Eine kurze Weile blieb sie noch unter der felsigen Stufe stehen, auf der seine gespaltenen Hufe ruhten, dann war sie mit einem raschen Schritt zu ihm heraufgestiegen und strich mit der Hand über die rauhen, schrundigen Zotteln seines Fells. Er fühlte die Zartheit der Finger auf seiner Hüfte und spürte, wie sie sich in sein Fell eingruben bis auf die Haut und ihn sanft kraulten, und unter dieser zärtlichen Berührung schwand die Starre in seinen Gliedern, seine gefühllose Haut verlor ihre Härte und nahm Empfindungen auf, die wie Schauer des Erwachens über seinen Körper liefen, und in seiner Brust begann das Herz zu klopfen wie ein Hammer, der die letzten Reste der Erstarrung zerschlug.
Solange er dessen fähig war, gab er sich bewegungslos der Zärtlichkeit dieser Hand hin, doch dann konnte er seine Begierde nach Bewegung nicht länger zügeln. Er hob den Arm, berührte tastend die Schulter der Frau und drängte
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