Stein und Flöte
seit du hier stehst.«
»Ist dir die Zeit lang geworden?« fragte er.
»Die Zeit lang geworden?« Der Zirbel kicherte hölzern. »Wofür hältst du mich? Mir war nachgerade so zumute, als stünde ich wieder als gewachsener Baum auf festem Grund; und das ist das beste Gefühl, das unsereins haben kann. Ich war nur ein bißchen enttäuscht, daß dir offenbar der Gesprächsstoff ausgegangen ist. Ist deine beschränkte Vorstellung von Zeit wenigstens etwas weiträumiger geworden?«
»Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann«, sagte er. »Mir scheint eher, daß die Zeit völlig durcheinander geraten ist. Ereignisse, die lange zurückliegen, spielen sich unversehens vor meinen Augen ab, das Spätere geschieht vor dem Früheren, und eben bin ich mir beinahe selbst begegnet. Es kommt mir vor, als gebe es überhaupt kein Vorher oder Nachher, sondern nur ein Zugleich.«
»Für einen Menschen, der sonst immer glaubt, die Zeit festhalten oder gar messen zu können, ist das eine erstaunliche Einsicht«, sagte der Zirbel. »Mir scheint fast, du hast nicht ohne Nutzen eine Weile über diesem Teich gestanden. Du hättest nur ins Wasser zu schauen brauchen, um gleich zu begreifen, was dir jetzt noch immer sonderbar vorkommt. Schau dir das doch an: Mit einer kleinen Welle, die von jener Stelle ausgeht, an der eben ein dürrer Zweig ins Wasser gefallen ist, läuft dort ein Stück deines Gesichts über die Fläche. Eben war dein Spiegelbild noch hier, nun läuft es weiter und erscheint an einer anderen Stelle, taucht auf und verschwindet wieder. Aber hast du dich bewegt? Das kannst du gar nicht; denn du bist aus Stein. Der ganze Ablauf auf dem Wasser war nichts weiter als eine Vorspiegelung. So geht es dir, wenn du immer nur auf das starrst, was scheinbar entsteht, vorüberläuft und wieder vergeht. Dergleichen nennt ihr Zeit und merkt bei alledem überhaupt nicht, daß ihr das Wesentliche überseht, das immer da war von Anbeginn und nie vergeht.«
»Ist denn das ganze Leben nur eine solche Täuschung?« sagte er. »Du nimmst mir jede Hoffnung, daß ich je aus dieser Erstarrung herausfinde, um endlich wieder der zu werden, der ich einmal gewesen bin.«
»Was bist du doch für ein Dummkopf!« sagte der Zirbel. »Das Leben ist alles andere als eine Täuschung. Du täuschst dich nur darüber, was das Leben eigentlich bedeutet. Hast du denn nicht hinreichend erfahren, welche Bemühungen deinetwegen im Gange sind? Das sollte dir doch Grund genug zur Hoffnung geben. Mir scheint, diese eine Maus dort unten ist darin gescheiter als du; von der anderen will ich lieber nicht reden. Denk doch einmal ein bißchen nach! Dann wirst du’s schon begreifen!«
Damit hatte der Zirbel für diesmal genug geredet, und auch von den Mäusen war nichts zu hören, die sonst immer zwischen den Wurzeln des Ahornbaumes etwas zu wispern und zu knabbern hatten. Von irgendwoher tönte ein heiserer, krächzender Schrei, den er noch nie gehört hatte. Was mochte das für ein Tier sein, das so häßlich kreischte? Am ehesten klang es nach einem großen Vogel. Und als der Schrei noch einmal schrill irgendwo links hinter den Erlenbüschen die Luft zerschnitt, begann er Ausschau zu halten nach dem Wesen, das diesen Laut ausstieß.
Wo eben noch die dunkelgrüne Kulisse der Erlen das dahinter liegende Gelände verborgen hatte, öffnete sich jetzt der Ausblick auf einen weitläufigen, sorgfältig angelegten und gepflegten Garten, der umsäumt war von hohen, kantig beschnittenen Hecken. Das regelmäßige Netz der kiesbestreuten Wege wurde gesäumt von Eibenbüschen, die teils kugelrund, teils auch pyramidenförmig zurechtgestutzt waren, und zwischen ihnen prangten Blumenbeete in leuchtenden Farben, samtblaue Rabatten umgrenzten Wälder blühender Fuchsien, Rosenbüsche füllten die Felder zwischen niedrigen Buchsbaumhecken, und all das war auf eine Weise geordnet, daß Muster und Ornamente sich ineinander verflochten wie auf einem Teppich. An den Wegkreuzungen und seitwärts unter Baldachinen von Kletterrosen standen steinerne Figuren, gerüstete Männer mit behelmtem Haupt und Waffen in den Händen, nackte Frauengestalten von ebenmäßiger Schönheit und auch allerlei seltsames Getier, geflügelte Pferde bäumten sich da auf, wasserspeiende Hirsche lagen inmitten ovaler Brunnenbecken, auf weiten Podesten ruhten hingestreckt gewaltige Löwinnen mit Frauenköpfen, die irgendwohin in die Unendlichkeit zu starren schienen.
Von allen Seiten führten Wege
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