Stein und Flöte
sich näher, um die Wärme dieses lebendigen Körpers aufzunehmen. Da erschrak die Frau bis ins Mark. Sie schrie auf, sprang hinunter ins Gras und war mit wenigen Sprüngen im Gebüsch untergetaucht.
Noch lange blickte er ihr nach, doch nichts regte sich mehr in den Zweigen der Erlen. Da stieg er herab von seinem Podest, setzte sich an den Rand des Quellteichs, schöpfte Wasser und trank wie einer, der nach langer Steppenwanderung einen Brunnen erreicht hat.
Dritter Teil
1. Kapitel
Als er aufwachte, lag er im Gras neben dem Quellteich und sah über sich die vielfach gestaffelten Äste des Ahornbaumes, zwischen deren Laub an einzelnen Stellen der blaue Himmel hindurchschimmerte. Er mußte lange und tief geschlafen haben; denn er erinnerte sich, daß noch heller Tag gewesen war, als er sich an dieser Stelle niedergelegt hatte, und nun stand die Sonne schon wieder hoch am Himmel. Soviel wußte er noch, daß er sich plötzlich unendlich müde gefühlt hatte, als habe er seit undenklicher Zeit nicht geschlafen, und das hatte er ja auch nicht, obwohl er bewegungslos auf seinem Podest über dem Teich gestanden hatte. In unablässiger Folge waren Ereignisse an ihm vorübergezogen, die seine Aufmerksamkeit erregt und seine Gedanken beschäftigt hatten, Bilder und Geschehnisse, an die er sich so genau erinnerte, als sei er selbst dabeigewesen, obwohl dies doch gar nicht möglich war, nicht sein konnte; denn er entsann sich zugleich auch wieder seines gesamten Lebens, wie es bis zu dem Zeitpunkt seiner Versteinerung abgelaufen war, alles wußte er wieder, was er zeitweise vergessen hatte, dann allmählich wiedergefunden und schließlich aufs neue verloren hatte, um als unbeteiligter und doch auch wieder aufs tiefste in all diese Ereignisse verstrickter Beobachter in Raum und Zeit herumzugeistern, bis ihn diese Frau endlich gefunden hatte.
Als er versuchte, sich diese kurze Begegnung noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen, wurde ihm bewußt, daß er sich eigentlich nur an Augen erinnern konnte, Augen von schwer zu beschreibender Farbe, die er kannte und die ihm vertraut waren aus zahllosen Träumen und Geschichten. Er wußte auch, daß er hier in diesem Tal schon mehrfach einem Mädchen begegnet war, das ihn aus solchen Augen verschreckt, ja entsetzt angeschaut hatte, ehe es vor ihm davongelaufen war. Aber dieses Mädchen war viel jünger gewesen, die Tochter Promezzos, des Erzmeisters, und seiner Frau Akka, nur wie es hieß, wollte ihm noch immer nicht einfallen. Die ihn hier gefunden und geweckt hatte, mußte jedenfalls größer gewesen sein, denn sie hatte ihm, als sie neben ihm stand, ins Gesicht schauen können, dessen entsann er sich jetzt doch. Er spürte ihren Körper noch neben sich, und das war nicht der schmale Körper eines Kindes gewesen, sondern der einer erwachsenen Frau. Also war es doch nicht dieses Mädchen, dachte er. Aber wer war es dann gewesen? Und warum war sie davongelaufen, obwohl sie ihn so zärtlich gekrault hatte. Vielleicht war sie noch in der Nähe?
Sobald er diesen Gedanken gefaßt hatte, sprang er auf und machte sich auf die Suche, lief auf seinen staksigen Bocksbeinen hinüber zum Erlengebüsch, teilte mit seinen Armen die Zweige auseinander und blickte hinaus in das weite, flache Tal. Vor ihm schlängelte sich der Bach in weiten Windungen durch die sanft abfallenden Wiesen, die gelb waren von blühendem Löwenzahn und Butterblumen, aber weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur eine Spur führte talabwärts, die sich irgendwo im Grün der Wiesen verlor.
Ein Schritt hinaus aus dem Schatten des Gebüschs ins offene Land belehrte ihn darüber, daß ihn noch immer diese überwältigende Angst jäh befiel, sobald er den freien Himmel über sich spürte, und ihn zwang, wieder unter das schützende Dach der Zweige zurückzuweichen. Er setzte sich unter einen dicht belaubten Erlenstrauch und schaute hinunter ins Tal, wo irgendwo im fernen Dunst die Hirtenhäuser stehen mußten, und er fragte sich, ob diese junge Frau dort wohnte.
Während er noch überlegte, wer aus Urlas Sippe ihm hier nun wieder begegnet war, trat ein Mäuserich gemessenen Schrittes und unter höflichen Verneigungen auf ihn zu und sagte: »Ich bin ungemein erfreut, Steinauge, dich hier so lebendig und, wie es scheint, durchaus nicht mehr versteinert anzutreffen. Erlaube mir, daß ich dir die ergebenen Grüße eines betagten Mäuserichs aus unserm Volk überbringe, der bei uns den Titel ›Hüter des Steins‹ trägt.
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