Stein und Flöte
geringe Entfernung überwinden kann. Man nennt ihn Faun, und das splitternackte Mädchen dort drüben ist eine Quellnymphe. Solche Nymphen wohnten früher überall, wo eine Quelle aus der Erde springt und sorgten dafür, daß deren Wasser klar und frisch blieb. Manche Leute behaupten, diese Nymphe habe Marica geheißen, aber das weiß man nicht mehr genau; denn die Geschichte der beiden ist viele hundert Jahre lang von den Leuten immer weitererzählt worden, und dabei geraten die Ereignisse und Namen ein bißchen durcheinander. Du kannst dir ja vorstellen, was dabei herauskommt, wenn jeder eine solche Geschichte so zurechtbiegt, wie er sie sich am besten zunutze machen kann. Die beiden sollen sich vom ersten Augenblick an ineinander verliebt, aber gleich wieder aus den Augen verloren haben. Während dieser Faun dann durch die Wälder zog, um seine Nymphe zu suchen, sollen ihm immer wieder andere Mädchen begegnet sein, die ihm auch gefielen. Ein Faun läßt sich auf diese Weise gern ablenken, mußt du wissen. Jedenfalls lief er aus diesem Grund immer aufs neue in die Irre.«
»Hat er diese Marica – oder wie sie geheißen hat – denn nie gefunden?« fragte das Mädchen.
»Doch«, sagte die Großmutter, »das hat er wohl, aber was darüber in den Büchern steht, ist so widersprüchlich, daß ich es nicht glauben kann.«
»Woher weißt du es dann?« fragte das Mädchen und rückte in Erwartung einer Geschichte näher an seine Großmutter heran.
»Von meiner Großmutter«, sagte die alte Frau, »und die hat mir erzählt, sie hätte die Geschichte von ihrer Urahnin gehört, die sie wiederum von einer alten Frau aus ihrer Verwandtschaft hatte. Durch wie viele Generationen sie auf diese Weise weitergegeben wurde, kann ich dir nicht sagen, aber sie muß schon sehr alt sein. Da sei einmal ein Junge, heißt es, ohne Waffen mit den Männern seines Dorfes in den Krieg gezogen und habe nach der Schlacht versucht, die Wunden zu lindern, die seine eigenen Leute ihren Feinden geschlagen hatten. Einer der Sterbenden, es war ein alter Mann namens Arni, gab dem Jungen einen kostbaren Stein, der wie ein lebendiges Auge in drei Farben schimmerte: blau, grün und violett. Er war wohl der Meinung, daß ein Mensch, der so handelt wie dieser Junge, zum Träger des Steins bestimmt sei.
Als dieser Krieg vorüber war, zog der Junge in die Welt, um herauszubekommen, wozu der Stein gut sei, und er soll dabei immer wieder von einem Mädchen geträumt haben, das er suchen müsse. Dabei traf er seinen Großvater, den er noch nie gesehen hatte. Von diesem lernte er das Flötenspielen; denn sein Großvater besaß eine silberne Flöte, deren Klang imstande war, die Gemüter der Menschen zum Guten zu bewegen, wenn man sie richtig spielte. Auch diese Flöte bekam der Junge, als sein Großvater gestorben war, doch dann ging es ihm so ähnlich, wie es in der Geschichte vom Faun erzählt wird: Er war auch so ein neugieriger Bursche, der immer alles für sich haben wollte. So geriet er gleichfalls in die Irre, verlor seinen Stein und auch die Flöte und fiel in die Hände einer bösen Zauberfrau, die ihn in einen solchen Faun verwandelte. Zu guter oder böser letzt erkannte er zwar, was er alles falsch gemacht hatte, doch diese Einsicht war so schrecklich, daß er zu Stein erstarrte und lange Zeit wie diese Statue dort drüben über einer Quelle stand. Daß er sich diesen Platz dafür ausgesucht hatte, war allerdings sein Glück; denn hier konnte ihn das Mädchen schließlich finden. Vielleicht war dieses Mädchen auch so eine Art Quellnymphe, aber Marica hieß es nicht.«
»Wie hieß es denn?« fragte das Mädchen.
»Ich habe es einmal gewußt«, sagte die Großmutter, »aber ich habe es vergessen. Vielleicht fällt es mir wieder ein, und dann sage ich es dir.«
»Du erzählst von den beiden, als sei das alles wirklich wahr und nicht nur eine Geschichte«, sagte das Mädchen.
Die Großmutter hob die Hand. »Warum sollen Geschichten denn nicht wahr sein?« sagte sie. »Was meinst du denn, warum diese Geschichte in unserer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde? Wir stammen doch von den beiden ab!« Als sie das sagte, blickte sie auf, und er sah ihre Augen, Augen, von schwer zu beschreibender Farbe zwischen Blau, Grün und Violett, die ihn anschauten, als könne die alte Frau ihn sehen. »Ja, so ist das!« versicherte sie noch einmal, und er konnte kaum noch unterscheiden, ob dies nun eine ihm unbekannte alte Frau oder doch Urla
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