Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
»Wie kann das sein?«
    »Ich stand hinterm Haus und wollte eben durch ein Fenster einsteigen, um meine Flöte zu suchen«, sagte er.
    Arnilukka blickte ihn verblüfft an. »Du warst wirklich dort an jenem Tag?« rief sie. Dann lachte sie unvermittelt und sagte: »Vielleicht war es gut, daß ich dich nicht gesehen habe. Wahrscheinlich wäre ich vor Schreck tot umgefallen. Hast du mich erkannt?«
    »Nein«, sagte Lauscher, »obwohl du mir irgendwie vertraut erschienst. Aber ich sah nur ein mageres Kind in einem rußgeschwärzten Kittel mit wenigen Sprüngen in den Wald rennen. Ehe ich recht begriff, wer da lief, warst du schon verschwunden.«
    »Und dann war ich allein«, setzte Arnilukka ihren Bericht fort. »Ich rief nach Lingli, rief und rief, aber sie ließ sich nicht blicken. Noch heute frage ich mich, was wohl aus ihr geworden sein mag. Ob sie noch mit den andern Hunden dort bei Arnis Hütte um die Brandruinen streicht?«
    »Nein«, sagte Lauscher, »das tut sie ganz bestimmt nicht«, und erzählte Arnilukka, wie er die Hunde getroffen hatte und wie es ihm mit Hilfe von Narzias Ring gelungen war, sie wieder in Menschen zu verwandeln. »Wenn sie meinem Rat gefolgt sind, leben sie unterhalb der großen Felswand in einer Höhle«, sagte er, und dann setzte er nach einer Weile des Nachdenkens hinzu: »Es ist schon merkwürdig: Wenn man’s recht bedenkt, dann hat Narzia diesem Mädchen das Leben gerettet, indem sie es in einen Hund verwandelt hat. Was sie Böses tut, scheint ganz gegen ihren Willen dann doch zum Guten auszuschlagen. Auch Arnis Stein hatte sie für sich beiseite gebracht, und nur deshalb konnten ihn die Mäuse ihr wieder ablisten und für mich aufbewahren, und mich hat sie zu einem Faun verwandelt, damit du mich finden kannst.«
    »Soll ich ihr dafür auch noch dankbar sein?« sagte Arnilukka. »Ich glaube eher, das Leben ist so beschaffen, daß es selbst die Taten der Bösen sich zunutze zu machen versteht und diese mit einwebt in die Muster auf dem ständig wachsenden und sich ausbreitenden Teppich alles Lebendigen.«
    »Das hätte dein Großvater Arni sagen können«, sagte Lauscher.
    »Er war es wohl auch, der mir in meiner Kindheit eine solche Vorstellung vom Leben beigebracht hat«, sagte Arnilukka. »Es ist nur sehr schwer, sich den Gedanken daran zu bewahren, wenn man von Angst gejagt durch den finsteren Wald läuft und vor jedem Knacken im Unterholz zu Tode erschrickt. So war mir damals zumute, als ich mich allein durch die Wälder schlug. Ich kann dir nicht sagen, wie viele Tage ich so unterwegs war; diese Zeit liegt in meiner Erinnerung begraben wie ein einziger wüster Traum von Finsternis, Angst und Todesfurcht. Ich weiß nicht, wie oft ich den Weg verlor und im Kreise lief, bis ich eine Lichtung oder einen alten Baum wiedererkannte, an denen ich schon einmal vorbeigekommen war. Manchmal grub ich mir auskeimende Eicheln und Bucheckern aus dem alten Laub, um den ärgsten Hunger zu stillen, aber der Hunger war weniger schlimm als die Angst, die mich stets von neuem aus jeder dunklen Stelle im Unterholz ansprang. Du weißt ja, daß ich schon immer ungern durch den Wald gegangen bin, aber nun sah ich selbst mit offenen Augen überall im Schatten die Erschlagenen liegen, die mich mit ihren starren Augen anblickten. Irgendwann bin ich liegengeblieben und hatte nur noch den Wunsch zu sterben. Da geschah etwas, an das ich mich noch genau erinnere: Neben meinem Kopf saß plötzlich eine Kröte und sagte: ›Warum willst du sterben, wo du doch dicht am lebendigen Wasser liegst?‹ Da erst merkte ich, daß ich neben einem Bach lag, der über bemooste Steine durch den Wald rann. ›Ich finde nicht wieder heraus aus diesem Wald‹, sagte ich. ›Weißt du einen Weg?‹
    ›Wenn du noch klar denken könntest, würdest du ihn selbst finden‹, sagte die Kröte. ›Geh bachaufwärts bis zu einem kleinen See. Gleich dahinter findest du dann den Einstieg in den alten Weg durch die Große Felswand.‹
    Die Kröte blickte mich mit ihren schönen goldenen Augen so freundlich an, daß ich wieder Mut faßte, aber sobald ich wieder allein durch den Wald lief, überfiel mich wieder die Angst. Ich muß kaum noch bei Verstand gewesen sein, als ich endlich die große Felswand erreichte und durch das alte Bachbett hinaufkroch, eine dunkle, enge Röhre, die kein Ende nehmen wollte, und auch oben ging es dann wieder weiter durch endlose Wälder. Irgendwann wachte ich morgens auf und erkannte, daß ich im Schauerwald

Weitere Kostenlose Bücher