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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Schnee, und Narzia stand über mir. ›Das Reh ist entkommen‹, sagte sie. ›Du bist in die falsche Richtung gelaufen.‹ Sie blickte auf mich herab wie eine Jägerin auf ihre Beute, und als ich ihre Augen sah, wurde mir klar, daß sie genau wußte, was ich vorgehabt hatte, und ich verstand die Doppeldeutigkeit ihrer Rede. ›Steh auf!‹, sagte sie. ›Wir wollen heimreiten.‹
    Damals begriff ich noch nicht, was eigentlich vorgegangen war. Erst später, als der Winter schon seinem Ende zuging, entdeckte ich Narzias Geheimnis. Es gab da im Haus eine junge Magd, die immer freundlich zu mir war. Als ich am Abend nach dieser sonderbaren Jagd auf meinem Bett lag und in die Kissen schluchzte, weil ich noch immer den Falken über mir spürte, der mich in seinen Fängen hielt, huschte sie in mein Zimmer, setzte sich zu mir und streichelte mich. ›Wein dich nur aus, Kindchen‹, sagte sie. ›Hat sie dir etwas Böses angetan, diese grünäugige Hexe?‹ Da erzählte ich ihr, wie es mir ergangen war, und es tat mir gut, mit jemandem darüber zu reden, daß ich mich selbst hier auf meinem Bett noch immer wie eine hilflose Maus fühlte. Die Magd, sie hieß Lingli, nahm mich in die Arme und versuchte mich zu trösten, als sei ich ihr eigenes Kind. ›Ach, Kindchen‹, sagte sie, ›du bist doch keine Maus! Schau deine Hände an mit den feinen Fingerchen, deine Arme und Beine! Sieht so eine Maus aus!‹
    ›Aber ich war eine!‹ schluchzte ich. ›Und dieser Falke hätte mich ums Haar umgebracht. Kannst du mir das erklären?‹
    ›Ja‹, sagte die Magd, ›das kann ich, wenn ich auch tausendmal wünschen möchte, ich hätte nie etwas davon erfahren.‹ Und dann erzählte sie mir, daß Narzia nicht nur durch einen Zauber als Falke in den Himmel fliegen könne, sondern auch die Macht besäße, andere in Tiere zu verwandeln.«
    »Das weiß ich nur zu gut«, sagte Lauscher, »denn sie hat ihre Kunst auch an mir versucht, wenn es ihr auch nur zur Hälfte geglückt ist.«
    »Das war also mit dir geschehen«, sagte Arnilukka. »Dann brauche ich es dir ja nicht weiter zu erklären. Sie hat dich also zu meinem Faun gemacht!« Sie lachte und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. Dann wurde sie wieder ernst und sagte: »Der armen Lingli ist es allerdings schlimmer ergangen. Seit jener Nacht, in der sie bei mir geblieben war, damit meine Angst verging, kam sie oft zu mir ins Zimmer, und wir wurden so vertraut miteinander, daß ich sie fragte, ob sie eine Möglichkeit zur Flucht wisse. ›Das ist schwer, Kindchen‹, sagte sie. ›Narzia hat ihre Augen überall, und man kann nie wissen, ob sie nicht gerade irgendwo als Falke auf einem Baum sitzt.‹ Aber sie versprach mir, nach einer Gelegenheit Ausschau zu halten.
    Darüber verging der Winter, der Schnee schmolz, und am Waldrand blühte von einem Tag auf den anderen der Huflattich. Da kam Lingli eines Abends zu mir und sagte: ›Willst du noch immer fliehen?‹ und als ich nur stumm nickte, fuhr sie fort: ›Dann mußt du es heute nacht tun! Am Nachmittag sind die Händler von weither zurückgekommen. Narzia war sehr zufrieden mit ihren Geschäften und feiert mit ihnen vorn in der Stube ein großes Fest. Die meisten sind schon betrunken, denn sie haben Wein mitgebracht.‹
    Jetzt, als die Gelegenheit da war, überfiel mich große Angst vor dem finsteren Wald. ›Können wir nicht wenigstens warten, bis es hell wird?‹ fragte ich. ›Damit Narzia dich besser sehen kann?‹ sagte Lingli. ›Nein, wenn du gehen willst, dann muß es jetzt sein.‹ – ›Ich fürchte mich so‹, sagte ich. Da legte mir Lingli die Hände auf die Schultern, sah mich lange an und fragte dann: ›Würdest du mich mitnehmen? Ich würde mich an jedem Ort der Welt weniger fürchten als in diesem Haus.‹ Da fiel mir ein Stein vom Herzen, daß ich nicht allein in die Nacht hinausgehen mußte, und ich umarmte Lingli vor Erleichterung.
    ›Ich habe schon etwas zum Essen für unterwegs beiseite geschafft, damit wir nicht hungern müssen‹, sagte Lingli und zeigte mir ein Bündel, um das ein Tuch geknotet war. Ich zog meine Pelzsachen an, denn die Nächte waren noch kalt, und dann schlichen wir an der Stubentür vorüber, hinter der die Betrunkenen lärmten und sangen, huschten aus dem Haus und liefen im Schutz der Büsche auf den Wald zu.
    Wir waren schon zwischen den ersten hohen Fichtenstämmen, als plötzlich wie aus dem Boden gewachsen Narzia vor uns stand, ohne daß wir gesehen hätten, woher sie gekommen war.

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