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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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seinem Boot. Doch ehe er es erreicht hatte, stand plötzlich die Elfenkönigin vor ihm. Ihre Augen blitzten vor Zorn, und als sie die Hand gegen ihn hob, mußte Oleg stehenbleiben und konnte sich nicht mehr bewegen. ›Du hast einen meiner schönsten Bäume getötet‹, sagte sie. ›Dafür sollst du für alle Zeiten hier stehenbleiben wie ein Baum, es sei denn, es kommt einer und bittet für dich.‹ Und damit verließ sie ihn.
    Der Vater wartete vergeblich auf Olegs Rückkehr, seine Krankheit verschlimmerte sich, und als er nach einer Woche schon sein Ende nahen zu fühlen meinte, rief er Boleg zu sich und sagte: ›Ich habe keine Hoffnung mehr, daß dein Bruder zurückkehrt. Er wird wohl in die Gewalt der Elfenkönigin gefallen sein. Willst du jetzt den Versuch wagen, mir einen solchen Mistelzweig zu bringen?‹ und er sagte ihm auch, welche Gefahr damit verbunden war.
    Boleg sah, daß sein Vater sterben würde, wenn ihm nicht auf solche Weise geholfen wurde, und so nahm auch er seine Axt, stieg in sein Boot und ruderte drei Tage lang flußaufwärts, bis er zu der Insel kam. Er legte an, machte sein Boot fest und lief kreuz und quer durchs Gebüsch, bis er zu einer hohen Balsampappel kam, auf deren oberstem Ast ein Mistelbusch saß. Auch dieser Baum war auf keine Weise zu erklettern, und so setzte sich Boleg an den Fuß des Stammes und überlegte, was nun zu tun sei. Wenn ich keinen Mistelzweig mit nach Hause bringe, wird mein Vater sterben, dachte er. Wenn ich ihm helfen will, werde ich diesen schönen Baum fällen müssen, auch auf die Gefahr hin, daß ich den Zorn der Elfenkönigin errege. Und als er nach oben blickte und sah, wie groß dieser Mistelbusch war, kam ihm der Gedanke, daß er vielen Menschen mit diesen Beeren würde helfen können. So faßte er den Entschluß, den Baum umzuhauen.
    Gedacht, getan. Er nahm seine Axt, begann eine Kerbe in den Stamm zu schlagen, hieb immer tiefer hinein in das weiche, helle Holz, und nach einiger Zeit fing der Baum an zu ächzen und zu schwanken und stürzte krachend ins Ufergebüsch. Boleg war so, als habe der Baum im Niederfallen geschrien, und er erschrak. Doch da der Baum nun einmal gefällt war, lief Boleg an dem zerborstenen Stamm entlang bis zu dem Ast, der die Mistel trug, und wollte sie gerade mit seinem Messer abschneiden, als er entdeckte, daß der Ast einen Biber getroffen hatte, der wimmernd darunter lag.
    Der Biber schaute Boleg an und sagte: ›Hole mich doch bitte unter dem Ast hervor und gib mir eine von diesen Beeren zu essen, dann werde ich schon wieder gesund.‹
    Als Boleg sah, was er hier, ohne es zu wollen, angerichtet hatte, packte er zu, spannte alle seine Kräfte an, und es gelang ihm, den Ast, an dem das Gewicht des Baumes hing, so weit zu heben, daß der Biber unter ihm hervorkriechen konnte. Dann pflückte Boleg eine Beere von dem Mistelbusch ab und steckte sie dem Biber hinter die langen Nagezähne. Der Biber kaute ein bißchen auf der Beere herum, dann richtete er sich auf, schüttelte seinen Pelz und sagte: ›Jetzt solltest du dich aber beeilen, zu deinem Boot zu kommen, denn die Elfenkönigin wird sehr zornig werden, wenn sie entdeckt, daß du einen ihrer schönen Bäume gefällt hast.‹
    ›Bist du wieder ganz gesund?‹ fragte Boleg.
    ›Ja‹, sagte der Biber, ›und vielen Dank, daß du mir geholfen hast. Aber jetzt darfst du keine Zeit mehr verlieren, sonst geht es dir schlecht.‹ Dann lief der Biber zum Ufer, tauchte ins Wasser und schwamm davon.
    Da schnitt Boleg den Mistelbusch ab und lief am Ufer entlang zu seinem Boot. Doch ehe er es erreicht hatte, stand plötzlich die Elfenkönigin vor ihm. Ihre Augen sprühten vor Zorn, und als sie die Hand gegen ihn hob, mußte auch Boleg stehenbleiben und konnte sich nicht mehr von der Stelle bewegen.
    ›Du hast einen meiner schönsten Bäume getötet wie schon dein Bruder vor dir‹, sagte sie. ›Dafür sollst du für alle Zeiten hier stehenbleiben wie ein Baum, es sei denn, es kommt einer und bittet für dich.‹
    Damit wandte sie sich zum Gehen, doch ehe sie noch drei Schritte gemacht hatte, rauschte das Wasser auf, und der Biber platschte ans Ufer. Er schüttelte sich das Wasser aus dem Pelz und sagte: ›Elfenkönigin, ich bitte dich, daß du Boleg gehen läßt.‹
    ›Weißt du denn überhaupt, was er getan hat?‹ sagte die Elfenkönigin. ›Er hat wie sein Bruder Oleg eine meiner schönsten Pappeln gefällt, und es wird mehr als hundert Jahre dauern, bis wieder ein solcher

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