Stein und Flöte
Baum nachgewachsen ist.‹
›Ich weiß das‹, sagte der Biber, ›denn ich bin unter diesen Baum geraten, als er stürzte. Doch Boleg hat sich als barmherzig erwiesen, mich befreit und mir eine der Beeren gegeben, um mich zu heilen.‹
›Dann bittest du zu recht für ihn‹, sagte die Elfenkönigin. Sie streckte ihre Hand aus, und sogleich konnte Boleg sich wieder bewegen. Er dankte der Elfenkönigin und auch dem Biber für seine Fürsprache und wollte den Mistelbusch aufheben, der ihm vor Schreck aus der Hand gefallen war. Als die Elfenkönigin das sah, fragte sie ihn, wozu er die Mistel brauche.
›Mein Vater ist sterbenskrank‹, sagte Boleg, ›und hat mich gebeten, ihm einen Mistelzweig von dieser Insel zu holen, damit er wieder gesund werden kann.‹
›Hat er dir auch gesagt, daß ich jeden bestrafe, der meinen Bäumen ein Leid zufügt?‹ sagte die Elfenkönigin.
›Ja‹, sagte Boleg. ›Aber auf andere Art war an die Mistel nicht heranzukommen, und ich liebe meinen Vater so, daß ich diese Gefahr auf mich genommen habe.‹
›Gut‹, sagte die Elfenkönigin. ›Aber warum hast du gleich einen ganzen Busch mitgenommen, wo du doch nur ein Zweiglein mit einer einzigen Beere brauchst?‹
›Ich dachte mir‹, sagte Boleg, ›daß ich noch anderen Menschen damit helfen könne. Kranke und Sterbende gibt es überall auf der Welt.‹
›Das weiß ich‹, sagte die Elfenkönigin. ›Aber wer eine solche Mistelbeere gewinnen will, der muß sich schon selber die Mühe machen und sie holen, so wie du sie für deinen Vater geholt hast. Brich dir also ein Zweiglein ab, aber den Busch laß hier liegen!‹
›Wenn das so ist, will ich damit zufrieden sein‹, sagte Boleg, bückte sich und brach sich ein Zweiglein ab, auf dem zwischen den Blättern eine einzige milchig weiße Beere saß. Als er das getan hatte, trat er vor die Elfenkönigin und sagte: ›In dieser Sache habe ich mich deinem Willen gefügt, denn du bist die Herrin dieser Insel, aber jetzt bitte ich dich, auch meinen Bruder Oleg freizugeben.‹
›Weißt du denn, was er getan hat?‹ fragte die Elfenkönigin.
›Das gleiche wie ich‹, sagte Boleg. ›Du hast es ja eben selbst gesagt.‹
›Das gleiche und doch nicht das gleiche‹, sagte die Elfenkönigin. ›Als ich zu dem Baum kam, den Oleg umgebracht hat, fand ich unter den Ästen einen Fischotter, und der war tot. Vielleicht hat auch er um Hilfe gebeten, aber Oleg hat sie ihm nicht gewährt.‹
›Kann es nicht sein, daß der Fischotter sofort tot war, so daß mein Bruder ihm nicht mehr helfen konnte?‹ sagte Boleg.
›Kann sein, kann auch nicht sein‹, sagte die Elfenkönigin. ›Aber nun hat er zwei Leben auf dem Gewissen: den Baum und den Otter.‹
›Als er den Baum fällte, konnte er nicht wissen, daß dieser den Otter erschlagen würde‹, sagte Boleg. ›Ich bitte dich nochmals: Gib ihn frei, denn ich kann nicht ohne meinen Bruder vor meinen Vater treten.‹
Da forderte ihn die Elfenkönigin auf, ihr zu folgen, und nach wenigen Schritten sah er Oleg starr und steif im Gebüsch stehen. Seinen Mistelbusch hielt er noch in der Hand. Sobald die Elfenkönigin ihre Hand ausgestreckt hatte, wurde der Bann von Oleg genommen. Als er seinen Bruder erkannte und sah, daß dieser einen Mistelzweig in der Hand hielt, rief er: ›Komm, wir wollen um die Wette rudern und sehen, wer als erster zu Hause ist!‹ denn er wußte, daß er der bessere Ruderer war, und dachte daran, was er von seinem Vater mit dem Mistelbusch zu gewinnen hoffte. Doch die Elfenkönigin hielt ihn mit einer gebieterischen Handbewegung zurück und sagte: ›Warte! Diesen Mistelbusch mußt du hier lassen! Es genügt, daß dein Bruder einen Zweig hat.‹
Oleg blickte sie wütend an und sagte: ›Mich hat mein Vater als ersten ausgeschickt. Soll ich mit leeren Händen nach Hause kommen?‹
Da schaute ihm die Elfenkönigin forschend in die Augen und sagte: ›Worum geht es dir eigentlich, Oleg? Darum, daß dein Vater gesund wird, oder darum, daß du es bist, der ihm die Rettung bringt? Lege den Busch auf den Boden! Oder willst du hier für alle Zeiten stehenbleiben? Ich habe dich nur deshalb freigegeben, weil dein Bruder für dich gebeten hat.‹
Da warf Oleg den Zweig zornig weg und sagte: ›Komm, Boleg! Wir wollen nach Hause rudern!‹ drehte sich um und ging zu seinem Boot. Als sich Boleg noch einmal bei der Elfenkönigin bedankte, sagte sie zu ihm: ›Hoffentlich bereust du es nicht, daß du deinen Bruder freigebeten
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