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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Khan wurde, fühlte sich nicht an dieses Wort gebunden. Auf diese Weise mag nun auch Narzia selbst schuld daran sein, daß alle ihre Leute erschlagen wurden. Wenn man die Dinge so betrachtet, kann man zu der Erkenntnis gelangen, daß es gar nicht so sehr darauf ankommt, wer am Zustandekommen dieses oder jenes Unglücks beteiligt war; denn auf diese Weise wird wohl jeder Mensch schuldig.«
    Lauscher dachte eine Weile nach und sagte dann: »Wenn man dich so reden hört, dann könnte man zu der Ansicht kommen, daß jeder nach seinem Belieben tun könnte, was ihm gerade in den Sinn kommt; denn schuldig wird er ja auf jeden Fall.«
    »So einfach ist es nun auch wieder nicht«, sagte Wazzek lächelnd. »Ich will dir eine Geschichte erzählen, die ich als Junge in unserem Dorf von einem Fischer gehört habe. Da waren zwei Brüder namens Oleg und Boleg, deren Vater sterbenskrank darniederlag. Er hatte eine weise und zauberkundige Frau holen lassen, und diese hatte ihm gesagt, es gäbe weiter stromaufwärts eine Insel im Fluß, und dort wachse auf den Ästen riesiger Balsampappeln eine zauberkräftige Mistel, mit deren Beeren man jede Krankheit heilen könne, und er werde nur dann wieder gesund werden, wenn ihm einer diese Medizin bringe. Man müsse jedoch sehr vorsichtig dabei zu Werke gehen, denn auf dieser Insel wohne eine Elfenkönigin, die es sehr übel aufnehme, wenn man ihre schönen Bäume beschädige.
    Da rief der Kranke seinen Sohn Oleg zu sich, berichtete ihm, was die Frau gesagt hatte, und bat ihn, einen Zweig von einer solchen Mistel zu pflücken und ihm zu bringen, damit er wieder gesund werden könne. Oleg nahm seine Axt, stieg in sein Boot und ruderte den Fluß hinauf. Drei Tage war er unterwegs, bis sich vor ihm der Fluß in zwei Arme teilte, und zwischen ihnen auf einer Insel sah er riesige Balsampappeln, die ihre Äste über das Wasser streckten. Er legte am Ufer der Insel an, machte sein Boot fest, nahm seine Axt und durchstreifte die Insel kreuz und quer, bis er endlich eine Pappel fand, auf deren oberstem Ast ein gewaltiger Mistelbusch saß.
    Oleg versuchte auf den Baum zu klettern, doch der Stamm war bis zur Höhe von drei Mannslängen ohne Äste und so dick, daß ihn nicht einmal drei Männer hätten umspannen können. Oleg blickte hinauf zu dem Mistelbusch, der turmhoch über ihm im Wind schwankte, und konnte ihn doch nicht erreichen, es sei denn, er würde den Baum fällen, um an die Mistel heranzukommen. Er setzte sich unter den Baum und überlegte, was er tun sollte. Daß er die Elfenkönigin erzürnen würde, wenn er dem Baum etwas antat, hatte ihm der Vater gesagt, aber Oleg wollte unter keinen Umständen ohne die Mistel nach Hause zurückkehren. Wenn ich dem Vater einen solchen Mistelzweig bringe, dachte er, dann wird er mir so dankbar sein, daß er mich zu seinem alleinigen Erben einsetzt. Und als er noch einmal in die Höhe blickte und sah, wie groß und reich verzweigt der Mistelbusch war, kam ihm auch noch der Gedanke, daß er viel Ansehen und große Macht gewinnen könne, wenn er einen solchen Busch besäße, an dem wohl Hunderte von Beeren sitzen mußten. Jeder, der auf den Tod erkrankt war, würde nach ihm schicken und ihn um eine solche Beere bitten. Jede einzelne von ihnen würde er sich zehnfach in Gold aufwiegen lassen können.
    Gedacht, getan. Oleg nahm seine Axt und begann eine Kerbe in den Stamm zu schlagen. Der Baum war zwar dick, aber Pappelholz ist weich, und so wurde die Kerbe rasch tiefer, und nach einiger Zeit begann der Baum zu ächzen und zu schwanken und stürzte krachend ins Ufergebüsch. Oleg meinte, im Bersten des Holzes einen Schrei gehört zu haben, doch er kümmerte sich nicht weiter darum, sondern lief zu jener Stelle, an der die Krone des Baumes mit dem Mistelbusch aufgeschlagen war. Er fand ihn rasch, doch als er ihn mit seinem Messer abschneiden wollte, sah er, daß der Ast im Niederstürzen einen Fischotter getroffen hatte, der jetzt wimmernd unter ihm lag.
    Der Fischotter blickte Oleg mit seinen runden Augen an und sagte: ›Hole mich doch bitte unter diesem Ast hervor und gib mir eine von den Mistelbeeren zu kosten, dann werde ich wieder gesund.‹ Oleg lachte und sagte: ›Was gibst du mir dafür?‹ – ›Meine Freundschaft‹, sagte der Fischotter. ›Dafür kann ich mir nichts kaufen‹, sagte Oleg, ›und außerdem könnte mich die Elfenkönigin erwischen, wenn ich mich hier noch länger aufhalte.‹ Er schnitt den Mistelbusch ab und lief zurück zu

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