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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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tut, müssen wir alle verhungern, mein Vater, Oleg und auch ich.‹
    ›Weiß denn dein Vater nicht, was auf der Elfeninsel geschehen ist und wie sich dein Bruder verhalten hat?‹ fragte der Otter.
    Boleg schüttelte den Kopf. ›Ich konnte es ihm nicht sagen, denn ich wollte ihm diesen Kummer ersparen‹, sagte er.
    ›Dann bist du selber schuld, daß es so weit gekommen ist‹, sagte der Otter. ›Du wirst deinem Vater alles erzählen müssen, wenn wieder Ordnung in euer Leben kommen soll. Du kannst von uns nicht verlangen, daß wir vergessen, was dein Bruder unserem Vetter angetan hat.‹
    An diesem Abend, als beide Söhne bei ihrem Vater in der Stube saßen, faßte sich Boleg ein Herz und erzählte seinem Vater, wie sich alles zugetragen hatte. Oleg hörte schweigend zu und sagte, als Boleg zu Ende gesprochen hatte: ›Er neidet mir mein Erbe, Vater. Deshalb erzählt er solche Lügengeschichten.‹
    ›Sind es denn Lügengeschichten?‹ fragte der Vater und blickte Oleg lange an. Dann stand er auf und sagte: ›Ich habe deiner Erzählung genau zugehört, Boleg. Kommt jetzt beide mit mir hinaus zum Anlegeplatz, denn dort werde ich herausfinden, wer die Wahrheit gesprochen hat.‹
    Er ging ihnen voran, und als sie alle drei auf dem Bootssteg standen, zog der Vater das Boot heran und betrachtete es genau. Dann richtete er sich auf und sagte: ›Wie kommt es, Oleg, daß du seit deiner Rückkehr das Boot deines Bruders benutzt hast, obwohl du ihm, wie du gesagt hast, auf der Fahrt zur Elfeninsel überhaupt nicht begegnet bist?‹ Als Oleg keine Antwort gab, sondern nur trotzig zu Boden blickte, sagte der Vater: ›Ich habe nur noch einen Sohn! Komm mit mir ins Haus, Boleg!‹ Doch schon beim ersten Schritt faßte er sich ans Herz, brach zusammen und war auf der Stelle tot.
    Nun frage ich dich, Flöter: Wer war schuld am Tod dieses Mannes: Oleg, der ihm mit dem Mistelzweig das Leben zurückbrachte, oder Boleg, der ihn mit seiner Wahrheit tötete?«
    Lauscher dachte lange nach und sagte dann: »Boleg hat den Tod seines Vaters verursacht, aber er hat immer in guter Meinung gehandelt. Wie kann man ihn dafür verurteilen?«
    »So ist es«, sagte Wazzek. »Wenn du schon nach Schuld fragst, dann solltest du nicht meinen, das sei nur eine Frage von Ursache und Wirkung. Wenn es sich so verhielte, dann wäre es am besten, sich gleich die Kehle durchzuschneiden; denn einer solchen Schuld könnte keiner entrinnen. Du mußt die Geschichte schon bis zu ihrem Anfang zurückverfolgen, wenn du die Wurzel des Übels finden willst. Was haben die Brüder da getan?‹
    »Sie haben beide einen Baum gefällt, obwohl sie wußten, daß dies gegen den Willen der Elfenkönigin verstieß«, sagte Lauscher.
    »Wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe«, sagte Wazzek. »Die Frage ist vielmehr: warum haben sie das getan?«
    »Um an den Mistelbusch heranzukommen«, sagte Lauscher.
    »Und wozu das?« fragte Wazzek.
    »Sie wollten beide ihrem Vater eine Beere von diesem Busch bringen«, sagte Lauscher.
    »Warum?« fragte Wazzek weiter.
    »Boleg wollte das Leben seines Vaters retten«, sagte Lauscher.
    »Und Oleg?« fragte Wazzek.
    »Dem ging es vor allem anderen um das Erbe und um die Macht, die er mit dem Mistelbusch gewinnen würde«, sagte Lauscher.
    »Da hast du’s«, sagte Wazzek. »Aber frage mich jetzt nicht, was ihn dazu gebracht hat, so zu denken. Das Übel fängt dort an, wo einer darauf aus ist, auf Kosten anderer Macht zu gewinnen. Am Beginn steht der Gedanke, aber der frißt sich unter der Oberfläche weiter und höhlt den Boden aus, bis irgendeiner, der davon gar nichts ahnte, unversehens einbricht und in die Tiefe stürzt. Auf solche Weise haben viele während des Großen Reitersturms einander umgebracht, ohne recht zu wissen, warum dies alles geschah. Erst Khan Belarni hat damit ein Ende gemacht.«
    »Khan Belarni?« fragte Lauscher. »Wie kommt es, daß der jüngste Sohn Hunlis zum Khan gewählt wurde?«
    »Das weißt du nicht?« sagte Wazzek überrascht. »Wo hast du dich eigentlich in den letzten Jahren herumgetrieben? Belarni ist zudem nur ein Pflegesohn des Khans. Als er noch ein kleines Kind war, verlor sein Vater in einem Kampf das Leben, als er den Khan schützen wollte, und unter solchen Umständen nimmt der Gerettete das verwaiste Kind in sein Zelt auf und verleiht ihm alle Rechte eines leiblichen Nachkommen.«
    »Ich weiß nur so viel«, sagte Lauscher, »daß Hunli im Winter vor dem Reitersturm

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