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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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hatte. Da sah ich zum Beispiel einen Jungen auf einem Esel an einem winterlichen Fluß entlang reiten. Ganz deutlich erinnere ich mich an die zerscherbten Eisplatten, die im Ufergestrüpp hingen. Der Junge stieg nach einiger Zeit ab, ließ seinen Esel frei laufen und schlenderte langsam weiter, als habe er kein Ziel. Ich sah diesen Jungen dicht vor mir, ja ich konnte durch seine Kleider hindurchsehen und entdeckte, daß er in einem Beutel etwas Schimmerndes auf der Brust trug, und auch dieser Beutel war plötzlich wie ein feines Netz aus Glas und ließ mich erkennen, daß der Junge Arnis Stein bei sich hatte. Wie kann er so ziellos und traurig dahintrotten, dachte ich, wenn er dieses Kleinod besitzt, von dem damals keiner wußte, wo es geblieben war. Er sollte zu mir kommen, dachte ich; denn ich mochte ihn vom ersten Augenblick an. Und dann sprach ich zu ihm, um ihm Mut zu machen, denn ich hatte den Eindruck, daß er noch gar nicht begriffen hatte, was er in dem Stein besaß. Ich konnte nicht erkennen, ob er mich hörte, und da streckte ich die Hand aus, doch sobald ich ihn berührte, war das Traumbild wie ausgelöscht.
    Ein anderes Mal, damals war ich schon etwas älter, sah ich den Jungen nachts im Gebüsch neben einer Quelle liegen, und ich wußte, daß er sich auf einen Weg begeben hatte, der ihn in die Irre führen würde. Frag mich nicht, woher mir dieses Wissen kam – ich konnte es einfach sehen. Und ich sah auch die Verzweiflung voraus, in die er geraten würde, ohne daß ich ihn auf irgendeine Weise hätte hindern können, diesen Weg weiterzugehen. Da nahm ich ihn in die Arme, damit er sich an diesen Trost erinnerte, wenn ihn die Verzweiflung überkommen wollte, aber er verging in meinen Armen wie Rauch, und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Nur die Quelle hörte ich noch eine Weile rauschen.
    Später hatte ich einen ganz kurzen Traum. Wieder sah ich den Jungen, wenn er mir diesmal auch etwas verändert vorkam. Er saß am Rand einer Lichtung auf einem Baumstumpf und starrte auf Arnis Stein, den er in der Hand hielt. Gleich darauf strich ein Schatten über den Stein, der sein Leuchten mit einem Schlag auslöschte, und ich sah einen Vogel vom Himmel herabstürzen und seine Krallen nach dem Stein ausstrecken. Da schrie ich laut auf, um den Jungen zu warnen, und im gleichen Augenblick verschwand das Bild.«
    »Weißt du, daß all das wirklich geschehen ist und daß ich deine Nähe dabei jedesmal gespürt habe?« sagte Lauscher.
    »Ich habe gehofft, daß du sie spürst«, sagte Arnilukka, »und ich war sicher, daß diese Träume mir ein Stück Wirklichkeit zeigten. Damals erzählte ich Belarni zum ersten Mal davon. Ich war inzwischen so vertraut mit ihm geworden, daß auch er viele Dinge, die ihn beschäftigten, mit mir besprach. Manches davon konnte ich noch gar nicht verstehen, aber ich spürte, daß es ihm gut tat, mit jemandem darüber zu reden oder jemanden zu haben, der ihm zuhörte. Ich hatte gefürchtet, daß er mich auslachen würde, wenn ich ihm von meinen Träumen berichtete, aber er hörte mir ruhig zu, und dann sagte er, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte: ›Es sieht so aus, als sei da jemand zu dir unterwegs, ohne daß er sich dessen bewußt ist. Ich glaube, ich weiß sogar, wer das ist.‹
    ›Dann sag es mir!‹ rief ich. Aber Belarni schüttelte den Kopf. ›Wenn es dir deine Träume nicht verraten, dann sollst du es noch nicht erfahren. Dieser Junge wird seinen Weg allein gehen müssen, bis er sein Ziel erkennt. Aber es wird ihm helfen, wenn er deine Gedanken spürt, die ihm entgegenkommen.‹ Seither lebte ich in meinen Gedanken und Träumen immer stärker mit diesem Jungen. Ich hatte schon lange das Gefühl gehabt, daß er mich an jemanden erinnerte. Wer das war, das erkannte ich erst, als ich dich zum ersten Mal im Flachtal traf und vor dir davonlief. Erst meinte ich, den Jungen aus meinen Träumen zu sehen, dann erst erkannte ich das Gesicht des Flöters, der mit mir durch den Schauerwald geritten war, und ich wußte, daß beide ein und derselbe waren. Der Anblick deiner zottigen Nacktheit jagte mir dann einen solchen Schreck in die Glieder, daß ich glaubte, ein Waldgeist habe mich genarrt, und beim zweiten Mal erging es mir nicht besser, wie du weißt.
    Dann kam dieser schreckliche Traum, in dem ich den Bocksfüßigen, der das Gesicht des Jungen oder des Flöters hatte, über einer Quelle auf einem Felsblock stehen sah. Seine Augen waren leer wie die eines Toten. Er hob ein Gefäß

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