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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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an die Lippen, und in diesem Augenblick wußte ich, daß er etwas Entsetzliches vorhatte. Ich wollte ihn daran hindern, aber ich konnte kein Glied bewegen und mußte zusehen, wie er diesen kleinen, rundlichen Krug austrank und fallen ließ. Und dann war es, als überziehe seine Glieder unaufhaltsam von den klobigen Beinen aufsteigend ein grauer Schimmel, der sich rasch ausbreitete und seine Haut stumpf machte wie Stein. Das war der letzte dieser Träume, aber danach hörte ich eines Nachts dieses Lied von dem steinernen Mann, der irgendwo im Wald steht und darauf wartet, daß ihn einer findet. Ich hörte es so oft, daß ich es bald auswendig konnte, und damals holte ich deine Flöte aus der Truhe und lernte das Lied auf ihr zu spielen.
    Belarni hörte einmal, wie ich es sang. Er blickte mich auf eine merkwürdige Weise an, nachdenklich und auch traurig, und sagte: ›Du wirst an keinen anderen denken können, bis du diesen Steinernen gefunden und ihn zum Leben erweckt hast.‹
    ›Soll ich das denn nicht?‹ fragte ich, doch er zuckte nur mit den Schultern und murmelte so etwas wie, daß er es ja doch nicht ändern könne. Damals wurde mir bewußt, daß er mich liebte und diese Liebe vor mir zu verbergen suchte um des Jungen willen, von dem er glaubte, daß ich ihn finden müsse.
    Das habe ich ja dann auch, und während des Sommers, den ich zusammen hier mit dir im Flachtal verbracht habe, ist mir Belarni kaum in den Sinn gekommen. Als ich dann im Spätherbst nach Hause kam und jeder mir ansehen konnte, wie es um mich stand, war er überhaupt nicht überrascht, sondern schien so etwas erwartet zu haben, ganz im Gegenteil zu meiner Mutter, die mir ziemlich viele Fragen zu stellen hatte. Ihre Fragen waren zum Teil die gleichen, die ich mir auch schon gestellt, aber wieder beiseite geschoben hatte. Doch jetzt mußte ich eine Antwort geben, und dabei begriff ich erst richtig, daß ich überhaupt keine Vorstellung davon hatte, was nun weiter geschehen sollte.
    Belarni merkte bald, daß ich nicht so fröhlich war, wie es eine junge Frau nach einem solchen Sommer sein sollte, und schließlich fragte er mich, was mich bedrücke. Da erzählte ich ihm, wie es um uns stand, und daß kaum ein Ort zu finden sei, an dem wir beide ohne Angst würden zusammenleben können. Er versuchte mich zu trösten, aber Rat wußte auch er mir keinen zu geben. Dann kam ich in die Wehen, und als das Kind da war, versuchte ich zunächst nicht weiter über die Zukunft nachzudenken. Doch der Frühling rückte immer näher, und mit jedem Tag wurde mir klarer, daß ich nicht fähig war, mein Leben lang immer an der Grenze der Angst entlangzugehen, hinter der deine Welt erst beginnt. Kannst du das verstehen, Lauscher?«
    Lauscher nickte langsam. »Auch ich habe während der langen Winternächte viel darüber nachgedacht«, sagte er, »aber eine Lösung habe ich nicht gefunden.«
    »Es gibt wohl keine«, sagte Arnilukka. »Und das habe ich schließlich auch Belarni gesagt. An diesem Abend hat er mich gefragt, ob ich seine Frau werden will.«
    »Liebst du ihn denn?« fragte Lauscher. Er hörte seine eigene Stimme wie die eines Fremden und wartete, während er sprach, schon auf den Schmerz, der unweigerlich auf ihn hernieder fallen würde und noch immer nicht kommen wollte. Arnilukka blickte ihn lange an, und dann sagte sie: »Ja, ich liebe Belarni, wenn auch auf eine andere Art als dich. Außerdem braucht er mich, und ich glaube, er braucht mich jetzt mehr als du.«
    »Also hast du dich schon entschieden«, sagte Lauscher und spürte, wie der Schmerz näher und näher kam.
    »Nein«, sagte Arnilukka. Er merkte, wie sie sich zu beherrschen versuchte, aber dann verlor sie doch ihre mühsam bewahrte Fassung und schrie fast: »Merkst du denn nicht, wie mir diese Entscheidung das Herz zerreißt?« Sie schwieg eine Weile, und dann sagte sie etwas ruhiger: »Du – das ist die Liebe wider alle Vernunft, überwältigend schön, aber auch dicht neben dem bodenlosen Abgrund der Angst und voll ständiger Unruhe; Belarni – das ist die Beständigkeit, eine Liebe wie ein fest gebautes Hans, in dem man ein Leben lang wohnen kann. Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll. Du mußt es mir sagen.«
    »Du weißt es schon«, sagte Lauscher. Jetzt war der Schmerz da und traf ihn wie ein Keulenschlag. Er versuchte standzuhalten. Dann griff er nach dem Beutel auf seinem Herzen, nahm den Stein heraus und legte ihn auf die Brust des kleinen Mädchens Urla in der Wiege.

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