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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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»Du hast die Augen«, sagte er.
    »Folge dem Schimmer,
    folge dem Glanz,
    du findest es nimmer,
    findst du’s nicht ganz.«
    Arnilukka blickte ihn verwundert an und fragte: »Wie willst du ohne den Stein weiterleben?«
    »Ich brauche ihn nicht mehr«, sagte Lauscher. »Er war nur ein Zeichen für das, was du mir geschenkt hast und was nun ein Teil von mir selbst geworden ist. Ich habe lange geglaubt, du selber seist das Ziel, zu dem ich unterwegs bin, aber nun sieht es so aus, als solltest du mir dieses Ziel erst zeigen. Bei solchen Dingen wie bei diesem Stein kommt es wohl nicht so sehr darauf an, daß man sie besitzt, sondern daß man sie zur rechten Zeit verschenkt. Und nun hat ihn Urla zurückerhalten. Wird Belarni unser Kind gern haben?«
    »Er liebt es schon jetzt«, sagte Arnilukka und stand auf, um Urla daran zu hindern, den funkelnden Stein in den Mund zu stecken.
    »Hebe ihn für sie auf, bis sie groß genug ist, seinem Geheimnis zu folgen«, sagte Lauscher. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander und schauten dem Kind zu, wie es mit seinen winzigen Händchen nach den Figuren auf der Brüstung der Wiege griff. Dann umarmten sie einander und standen lange Zeit so dicht aneinandergedrängt, als hätten sie nur einen gemeinsamen Körper. Erst jetzt wurde Lauscher zu seiner Verwunderung bewußt, daß der Schmerz in dem Augenblick verschwunden war, in dem er Arnis Stein aus der Hand gegeben hatte.
    Als Belarni von den Hirtenhäusern herüberkam, standen sie schon wieder an der Wiege und spielten mit dem Kind. »Was willst du jetzt tun?« fragte Arnilukka.
    »Ich werde eine Weile durch die Wälder ziehen und Ausschau halten, ob irgendwo ein Flöter gebraucht wird«, sagte Lauscher. »Kannst du mir zwei Pferde überlassen? Eins zum Reiten und ein Packpferd.«
    »Wazzek wird dir alles geben, was du brauchst«, sagte Arnilukka.
    Am nächsten Morgen ritten Arnilukka und Belarni mit dem Kind zurück nach Arziak. Lauscher stand am Waldrand und blickte ihnen nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Dann ging er zurück in seine Werkstatt und begann zusammen mit Döli eine zweite Drechselbank zu bauen, die man zerlegen und leicht wieder zusammensetzen konnte, und an den Abenden führte er den Jungen weiter in die Kunst des Flötens ein, doch seine Gedanken waren dabei nicht recht bei der Sache.
    Als der Sommer kam, schenkte Lauscher dem Jungen die alte Drechselbank, einen Teil der Werkzeuge dazu und auch drei der Flöten, die sie während des Winters gebaut hatten. »Jetzt ist es Zeit«, sagte er, »daß du zurück nach Arziak gehst und den Leuten zeigst, was du gelernt hast.«
    Am nächsten Morgen schnallte er die Teile der neuen Drechselbank samt dem Werkzeug und einem Ledersack mit den restlichen Flöten auf den Tragsattel des Packpferdes und ritt talabwärts durch die Wälder davon.

2. Kapitel
    An dem Abend, an dem jene Geschichte begann, die jetzt erzählt werden soll, saß Lauscher unter dem Türsturz seiner Hütte und schaute hinüber zu dem Kamm des Hochgebirges, dessen schroffe Zacken und Türme noch rot übergossen waren von den letzten Strahlen der Abendsonne, während die Gletscher darunter schon grau im Schatten lagen. Anfangs, als er von den Blutaxtleuten hierher in ihr Dorf verschleppt worden war, hatte ihm gegraut vor dieser kahlen, von Schrunden und Felsstürzen zerklüfteten Landschaft, in der nur hie und da auf den langgezogenen steilen Schuttkaren etwas Krüppelholz wuchs. Der Tag lag schon bald zwölf Jahre zurück, an dem ihn die rotschopfigen Grobiane irgendwo im wilden Wald aufgegriffen hatten, aber noch heute zitterte ihm das Herz, wenn er sich an diesen Ritt ins Gebirge erinnerte. Sie hatten ihn mit langen Riemen auf sein Pferd gebunden und blickten sich nicht einmal um, als er laut aufschrie vor Angst, sobald der Weg aus dem Wald hinausführte ins offene Gelände der Almwiesen, über denen der tiefblaue Himmel lastete wie eine stählerne Platte. Sie hatten sich weiter in ihrer kehligen, polternden Sprache unterhalten, während er bald halb ohnmächtig und mit geschlossenen Augen im Sattel hing. Im Dorf hatten sie ihn in eine niedrige Blockhütte gesperrt, die offenbar für solche Zwecke vorgesehen war, und erst hier in dem halbdunklen Raum, in den nur wenig Licht durch zwei schmale Fensterschlitze hereinfiel, war er wieder einigermaßen zur Besinnung gekommen. Das Zuriegeln hätten sie sich sparen können, hatte er damals gedacht, denn er war sicher, daß er diesen Raum aus freien

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