Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
andere. »Als damals dort unten Mord und Totschlag herrschten, habe ich mir ein anderes Winterquartier gesucht. Also leben die Leute dort alle wieder glücklich und zufrieden?«
    »Die meisten schon«, sagte Weißfeder. »Nur die Herrin Arnilukka hat das Lachen verlernt, und auch ihr Mann Belarni kann nicht mehr recht froh werden. Sie machen sich beide Sorgen wegen ihrer ältesten Tochter.«
    Jetzt kamen auch die anderen Dohlen vom Dach heruntergeflogen und sammelten sich um Weißfeder. »Was ist mit der Tochter?« fragten sie durcheinander. »Weißt du eine Geschichte? Erzähl doch, erzähl!«
    Lauscher war nicht weniger gespannt darauf als die Dohlen, was Weißfeder zu berichten hatte. Er wagte kein Glied zu rühren, um die Vögel nicht zu verscheuchen, und dann begann Weißfeder auch schon mit ihrer Erzählung.
    »Mit dieser Tochter«, sagte sie, »hat es etwas Merkwürdiges auf sich. Sie ist über die Maßen schön, hat nußfarbenes Haar und Augen, deren Farbe man kaum beschreiben kann. Sie ist auch sehr freundlich zu allen und geschickt zu jeder Art von Beschäftigung. Aber sie kann nicht reden wie die Menschen. Ihr könnt euch wohl denken, was es für ein Kummer ist, wenn Eltern mit ihrem leiblichen Kind noch nie ein Wort haben sprechen können.«
    »Weiß man denn, woran das liegt?« fragte eine der Dohlen. Weißfeder schwieg eine Weile, um die Spannung zu erhöhen, und dann sagte sie: »Die Eltern wissen es jedenfalls nicht; denn sonst hätten sie gar nicht erst versucht, das Mädchen auf jede nur denkbare Weise zum Sprechen zu bringen.«
    »Aber du hast es herausbekommen!« rief die andere Dohle, und die übrigen schrien jetzt wieder alle miteinander: »Erzähl doch! Erzähl!«
    Weißfeder blickte sich im Kreis um, ob auch alle richtig zuhörten, und dann sagte sie: »Ja, ich habe es herausbekommen, wenn ich auch nicht alles verstanden habe, was mir zu Ohren gekommen ist. Es steckt ein Zauber dahinter, und das habe ich erfahren, als ich im Frühling schon auf dem Rückweg in die Berge war. Ich flog dabei über das flache, grüne Tal, in dem die Leute von Arziak ihre Pferde weiden lassen. Dort entspringt am oberen Talende eine Quelle, an der ich trank, ehe ich mich zu einer kurzen Rast auf dem riesigen Ahornbaum niederließ, der über der Quelle seine Äste ausbreitet. Während ich dort saß, glitt ein Schatten durch das junge Laub, und als ich aufblickte, sah ich einen Falken am Himmel seine Kreise ziehen. Ich hielt mich ruhig unter den Blättern, damit er mich nicht entdeckte, aber eine Maus unten im Gras war nicht so vorsichtig. Ehe sie sich’s versah, stürzte der Falke wie ein Pfeil auf sie herab und packte sie mit seinen Klauen, ohne sie jedoch gleich zu töten.
    Die Maus quiekte gellend vor Schreck und sagte dann: ›Du hast mich gefangen, mach also schnell, damit ich’s überstanden habe.‹«
    Doch der Falke nahm sich Zeit, und das vielleicht gerade deshalb, weil die Maus nicht um ihr Leben bat, sondern sich tapfer zeigte. Das gefiel ihm wohl nicht. ›Warum so eilig?‹, sagte er. ›Ich habe Zeit, und mir ist langweilig, wenn ich immer so allein unter dem Himmel fliegen muß. Ich will mir mit dir noch ein bißchen Unterhaltung machen. Wie wär’s mit einem Rätselspiel? Wenn du gewinnst, laß ich dich laufen.‹
    Er hielt die Maus weiter unter seiner Klaue fest, doch die ließ sich nicht einschüchtern. Sie hob den Kopf und schaute dem Falken ins Gesicht, und erst da bemerkte ich, daß er grüne Augen hatte. Der Maus fiel das wohl auch auf, denn sie sagte: ›Mit dir hat ja schon einmal einer aus meinem Volk gesprochen. Mir soll’s recht sein, wenn mir die Ehre zufällt, dir noch einmal zu zeigen, daß Mäuse vor deinesgleichen nicht gleich den Verstand verlieren.‹
    Der Falke wurde ziemlich wütend, als er das hörte, aber da er das Rätselspiel nun schon angeboten hatte, konnte er nicht mehr zurück und sagte: ›Dir wird dieses hochtrabende Geschwätz schon noch vergehen, wenn du meine drei Rätsel hörst. Zum ersten also: Er ist ein Räuber und doch kein Räuber, er ist ein Sohn und doch kein Sohn, er ist ein Vater und doch kein Vater: Wer ist das?‹
    Jetzt fing die Maus wahrhaftig an zu kichern. ›Das ist doch einfach‹, sagte sie. ›Wenn du keine besseren Rätsel weißt, ist mir mein Leben sicher. Du meinst Belarni. Er ist ein Beutereiter und war doch nie auf Beute aus; er galt als Sohn Hunlis, ist aber nicht sein Sohn; er hat sich Arnilukkas Tochter wie ein Vater angenommen, ist

Weitere Kostenlose Bücher