Stein und Flöte
raschem Tempo den Dohlen nach. Nach einer Weile drang noch einmal das helle Geschrei der Vögel herüber, aber schon aus größerer Entfernung, und dann war es wieder still unter den Bäumen.
Auf diese Weise hatten sie also ihre Verfolger abgeschüttelt. Lauscher hatte eine ungefähre Vorstellung von der Richtung, in die sie sich halten mußten, aber in dem von zahllosen Bachläufen und Taleinschnitten zerrissenen Waldgebirge kamen sie nur langsam voran, mußten manchen Umweg in Kauf nehmen und oft absteigen und ihre Pferde über abschüssige Hänge führen. Glücklicherweise hatte Schneefink hinreichend für Vorräte gesorgt. »Hast du die Speisekammer deiner Großmutter ausgeplündert?« fragte Lauscher, als sie abends einen geeigneten Lagerplatz am Ufer eines Gebirgsbaches gefunden hatten und der Junge eine ganze Speckseite hervorholte, Streifen von Dörrfleisch, Ziegenkäse und wieder ein paar von den harten gewürzten Brotfladen.
»Wo denkst du hin?« sagte Schneefink. »Ich wußte schon lange, daß am Vorratsschuppen des Häuptlings ein Bodenbrett locker ist. Dort liegt so viel von diesen Sachen, daß Schwingshackl kaum merken wird, wenn etwas fehlt. Er kann’s jedenfalls leichter entbehren als meine Großmutter.«
Da ließ Lauscher sich das Essen ohne Gewissensbisse schmecken, zumal sein eigener Reiseproviant vor zwölf Jahren wohl auch im Vorratsschuppen des Häuptlings gelandet war. Nach dem Essen setzte er sich ans Bachufer und badete seine erhitzten Füße in dem kalten Gebirgswasser. Unter einem überhängenden Felsen sah er einen Schwarm von Forellen stehen. Die Fische ließen sich durchaus nicht stören, ja einer von ihnen kam sogar mit einem Flossenschlag herangeschwommen und beäugte jede einzelne seiner Zehen. Hier könnte man leicht Forellen fangen, dachte er, doch diese Vorstellung wurde von einem anderen Bild verdrängt, das aus seiner Erinnerung emportauchte: Er sah das Mädchen Arnilukka unter einer Weide am Ufer eines Teiches sitzen und mit den Fischen reden. Damals hatte er nicht verstehen können, was sie sagte, doch das hatte sich inzwischen geändert. Er beobachtete die Forelle, die unmittelbar neben seinen Füßen im Bach stand und zu ihm heraufzublicken schien, als warte sie darauf, daß er irgend etwas unternähme. Da zerbröselte er ein Stück Brot und streute die Krumen ins Wasser. Sofort schnappte die Forelle zu, doch gleich danach hob sie den Kopf über die strömende Oberfläche und schaute ihn geradezu an. Offenbar war sie auf etwas anderes aus als auf Brotbrocken. Mit Fischen hatte er bisher noch nie zu sprechen versucht, aber man muß ja alles irgendwann zum ersten Mal tun. Also sagte er: »Kennst du Arnilukka?«
Der Fisch schnellte sich mit einem einzigen Schwanzschlag aus dem Wasser, stand für einen Augenblick inmitten einer farbensprühenden Kaskade in der Luft und platschte dann wieder zurück in den Bach. Lauscher nahm das als eine Art von Bejahung hin und fuhr fort: »Dann gib ihr eine Botschaft von Lauscher weiter: Ich bin unterwegs, um unserem stummen Kind zu helfen.« Die Forelle hob jetzt wieder ihren Kopf aus dem Wasser und öffnete ihr rundes Maul, doch die Stimme, die er zugleich vernahm, schien nicht von außen zu kommen, sondern irgendwo in seinem Kopf zu sprechen, und sie sagte:
»Warum redest du so dumm?
Dieses Mädchen scheint nur stumm,
weil es nicht wie Menschen spricht,
bis der böse Zauber bricht.
Mancher, der im Walde geht,
sagt, daß er es gut versteht.«
»Stumm oder nicht stumm«, sagte Lauscher, »jedenfalls kann sie nicht mit ihren Eltern reden. Um diesen Zauber zu brechen, brauche ich den Ring und die Kette, die ich in den See an der Großen Felswand geworfen habe. Wie soll ich sie je wiederfinden?«
Kaum hatte er das gesagt, klang schon wieder die Stimme:
»Wo drei Winter du verbracht,
steig hinunter in den Schacht,
doch die Kette und der Ring
sind für dich ein nutzlos Ding.
Hilfe bringt der goldne Tand
nur in eines Falken Hand.«
»Das wird eine gefährliche Sache«, sagte Lauscher. »Dieser Falke ist der letzte, dem ich diese Zauberdinge überlassen möchte. Nun muß ich also auch noch den Falken suchen. Wo der zu finden ist, wirst du mir wohl kaum sagen können.« Doch die Stimme wußte auch darauf eine Antwort:
»Wo das flache Tal beginnt
und die Ahornquelle rinnt,
wo die Birkenmädchen stehn,
kannst du ihn am Himmel sehn.
Hast du ihm den Schatz gebracht,
hüte dich vor seiner Macht!«
»Du bist eine kluge Forelle und
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