Stein und Flöte
heitere Welt, in der die Menschen singend ihrer Beschäftigung nachgingen, in der getanzt und gelacht wurde, ein Schloß voller Fröhlichkeit und Liebe.
»Du denkst oft an Barleboog«, sagte er eines Abends zu Barlo, als sie zusammen mit dem Schäfer nach dem Abendessen vor der Hütte saßen.
Barlo nickte. Der Schäfer hatte aufgehorcht, als Lauscher den Namen des Schlosses nannte. »Von dorther kommt ihr also«, sagte er. »Mich wundert nicht, daß ihr weggezogen seid. Man sagte, seit Gisa sich das Tal angeeignet hat, sei dort alle Freude erstorben.«
»Was weißt du darüber?« fragte Lauscher.
»Nichts Genaues«, sagte der Schäfer. »Selten gelingt es einem Menschen, ihrer Macht zu entkommen. Aber an den langen Winterabenden erzählt man in den Dörfern unten am Fluß eine grausige Geschichte, die ›Gisa und die Wölfe‹ genannt wird. Kennst du sie?«
»Nein«, sagte Lauscher, »aber ich würde sie gern hören, denn ich bin auf Gisas Schloß gewesen und habe am eigenen Leibe erfahren, was sie aus einem Menschen machen kann.«
»Ich will sehen, ob ich zusammenbekomme, was ich davon aufgeschnappt habe«, sagte der Schäfer und begann mit der
Geschichte von Gisa und den Wölfen
Im Bergland am Oberlauf des Flusses von Barleboog lebte ein Steinsucher, der eine Tochter mit Namen Gisa hatte. Dieses Mädchen galt als das schönste weit und breit. Viele junge Männer kamen und warben um Gisa, aber sie war stolz und wies alle ab. Sie sagte, sie wolle nur den zum Manne nehmen, der ihr einen ebenso großen und reinen Saphir bringe wie jenen, den ihr Vater besaß. Diesen Stein hütete ihr Vater als sein kostbarstes Kleinod und zeigte ihn keinem Menschen mit Ausnahme seiner Tochter. Er verwahrte ihn in einem Kästchen, das in seinem Schlafzimmer neben dem Bett stand. Den Schlüssel dazu trug er stets bei sich und legte ihn nachts unter sein Kopfkissen. Jedesmal, wenn ein junger Mann zu Gisa kam und ihr einen Stein vorwies, den er nach langem Suchen gefunden hatte, sagte sie: »Wertloser Plunder! Du kennst den Stein meines Vaters nicht.« Sogar aus dem reichen Tal von Barleboog kamen Bewerber, die von Gisas Schönheit gehört hatten, ins Gebirge hinauf, aber keiner von ihnen brachte einen Stein, der dem Vergleich mit dem Saphir von Gisas Vater standhalten konnte.
Das ging so, bis eines Tages ein Fremder vorsprach, der Gisa ausnehmend gut gefiel. Er war kräftig und doch von schlanker Gestalt, hatte krause schwarze Locken, und die Art, wie er ihr in die Augen sah, ließ Gisa das Herz schneller schlagen. Aber auch sein Stein konnte vor ihren Augen nicht bestehen. Es tat ihr zwar leid, den Fremden abweisen zu müssen, aber wie stets sagte sie: »Wertloser Plunder! Du kennst den Stein meines Vaters nicht.«
»Dann zeig ihn mir doch!« sagte der Fremde. »Wie kann ich einen gleichen Stein finden, wenn ich nicht weiß, wie er aussehen soll?«
»Das ist nicht möglich«, sagte Gisa. »Mein Vater zeigt ihn keinem Menschen außer mir.«
»Also weißt du, wo er ihn verborgen hat«, sagte der Fremde. »Laß mich ein, wenn dein Vater schläft. Dann wird er nicht merken, daß du mir den Stein gezeigt hast.«
»Das wird so einfach nicht gehen«, sagte Gisa, »denn er hat den Stein in einem Kästchen verschlossen und legt den Schlüssel nachts unter sein Kopfkissen. Er wird aufwachen, wenn ich versuche, ihn herauszuziehen.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Fremde. »Ich will dir ein Schlafkraut geben, das du deinem Vater in seinen Abendtrunk mischst. Dann wird er nicht aufwachen, selbst wenn dir der Schlüssel aus der Hand fallen sollte.«
Gisa blickte dem Fremden in seine braunen Augen und konnte ihm nicht mehr widerstehen. »Ich tue das nicht gern«, sagte sie zwar, aber schließlich willigte sie ein. Der Fremde brachte ihr das Schlafkraut, und sie mischte es ihrem Vater in seinen Abendtrunk. Es schien auch zu wirken, denn bald darauf wurde er müde und ging zu Bett.
In der Nacht öffnete Gisa dem Fremden auf ein vereinbartes Zeichen hin die Tür und führte ihn in das Schlafzimmer ihres Vaters. Dort zog sie vorsichtig den Schlüssel unter dem Kopfkissen hervor, ohne daß der Vater sich auch nur im Schlaf bewegte, und sperrte das Kästchen auf.
Als der Fremde den Stein sah, begannen seine Augen vor Gier zu funkeln; denn der Saphir war von der Größe eines Taubeneis, tiefblau und klar wie das Wasser eines Bergsees. Der Fremde griff ins Kästchen und nahm den Stein heraus. »Du hattest recht«, sagte er. »Einen
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