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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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aufragen. Auf den Hängen unterhalb des Waldes weideten Schafe.
    »Heute nacht sollt ihr euch satt fressen«, sagte Gisa zu ihren Begleitern und zeigte auf die Herde. Die Männer starrten mit ihren gelben Augen auf die Beute und warteten, daß die Nacht hereinbrach. Sobald die Sonne untergegangen war, verwandelten sie sich in Wölfe, sammelten sich zum Rudel und stürzten sich auf die Tiere.
    In dieser Nacht kam der alte Wolf erst spät zu Gisa, um ihre Hand in seinem Pelz zu spüren. Gisa schlief in dieser Nacht nicht, sondern wartete ungeduldig auf den Morgen.
    Sobald die Sonne aufgegangen war und die Wölfe sich wieder in Männer verwandelt hatten, zog Gisa mit ihnen ins Tal hinunter. An der Schafweide standen Bauern und Hirten und beklagten ihren Verlust. Gisa blieb bei ihnen stehen und fragte, was geschehen sei.
    »Heute nacht sind Wölfe aus dem Wald gekommen und haben über hundert Schafe gerissen«, sagte einer. »Wie sollen wir uns gegen ein solches Wolfsrudel wehren?«
    »Das trifft sich gut«, sagte Gisa. »Meine Männer sind Wolfsjäger, wie ihr an ihren Pelzen sehen könnt. Führt uns zu eurem Herrn, damit er sie in Dienst nehmen kann. Dann werden wir diesen Räubern schon den Garaus machen.«
    Die Besitzer der Schafe hörten das gern und führten Gisa mit ihren Begleitern zum Grafen auf das Schloß. Hier wurde ein Fest gefeiert, schön gekleidete Leute gingen aus und ein, Speisen wurden aufgetragen, und überall wurde gelacht und getanzt.
    Als Gisa mit ihren Wolfsmännern eintrat, verstummte die Musik, die Tänzer blieben stehen, und alle starrten auf die düsteren Gestalten in ihren graubraunen Pelzen. Der Graf trat auf sie zu und fragte, was dieser Aufzug zu bedeuten habe. Da berichtete ihm der Bauer, der Gisa begleitet hatte, von dem Unglück und bat ihn, diese Männer zu Hilfe zu rufen. Der Graf hörte sich an, was der Bauer zu berichten hatte, und fragte dann Gisa, wer sie sei und woher sie komme.
    »Ich heiße Gisa«, sagte sie, »und meine Männer jagen oben in den Bergwäldern Wölfe. Nun haben wir gehört, daß heute nacht ein Rudel in den Herden gewütet hat, und bieten dir unsere Dienste an.«
    »Die will ich gern annehmen«, sagte der Graf, »denn ich habe nicht genug Jäger, um ein solches Rudel zu vertreiben. Seid heute meine Gäste und feiert mit uns. Morgen soll dann zur Jagd geblasen werden. Du, Gisa, sollst an meinem Tisch sitzen, weil du mir diese Hilfe gebracht hast.«
    Da mischten sich die Wolfsmänner unter die Festgesellschaft, und Gisa saß beim Grafen an dessen Tisch. Es fiel ihr auf, daß er keinen von denen, die mit ihm zusammensaßen, als Verwandten ansprach. »Hast du keine Frau und keine Kinder?« fragte sie.
    »Meine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben«, sagte der Graf. »Und mein einziger Sohn ist letzte Woche ausgeritten, um im Flachland Pferde zu kaufen. Aber auch mich wundert, daß du allein mit diesen Männern durch den Wald ziehst; denn das scheint mir kein Leben für eine Frau zu sein. Willst du nicht hier auf dem Schloß wohnen bleiben?«
    Gisa sah ihn an und sagte: »Das könnte schon sein.«
    »Ich will auch deine Männer auf Dauer in Dienst nehmen«, sagte der Graf. »Sie sollen gut bezahlt werden, denn ich bin reich. Du mußt wissen, daß man in der Flußschleife unterhalb des Schlosses Edelsteine finden kann.« Er griff in seine Tasche und zog einen Saphir hervor, ebenso groß und klar wie jenen, den ihr Vater besessen hatte. »Den schenke ich dir für deine halbe Zusage«, sagte der Graf, denn auch er war schon im Begriff, der Schönheit Gisas zu erliegen. Da gelang es Gisa kaum noch, die Gier in ihren Augen zu verbergen, und sie wartete ungeduldig, daß die Sonne sich zum Horizont senkte.
    Sobald der letzte Lichtstreifen hinter den Bergen verschwunden war, wurden Gisas Männer wieder zu Wölfen und stürzten sich auf die Gäste. Als erstem biß der alte Wolf dem Grafen die Kehle durch, und nach kurzer Zeit lebte im Schloß keine Menschenseele mehr.
    Von diesem Tag an war Gisa Herrin auf Barleboog. Ihre Männer wurden von den Leuten Gisas zottige Knechte genannt, und beim Gesinde begann man bald zu tuscheln, daß nach Sonnenuntergang keiner von ihnen zu sehen war. Gisa setzte sie als Vögte und Aufseher über die Bauern, Handwerker und Schloßdiener, die sie mitsamt allem, was sie zu eigen hatten und sich erarbeiteten, als ihren Besitz betrachtete. Nur eins ist ihr nicht geglückt: Es heißt, daß sie noch immer auf die Rückkehr des Grafensohnes wartet,

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