Stein und Flöte
solchen Stein findet man nicht zum zweiten Mal.«
»Sei still!« zischte Gisa. »Du weckst meinen Vater!«
Der Fremde lachte, und dieses Lachen ließ Gisas Herz erfrieren. »Deinen Vater?« sagte er. »Den wird keiner mehr aufwecken. Und den Stein nehme ich auch ohne dich als Zugabe.« Damit sprang er aus der Tür hinaus und wurde nie mehr in dieser Gegend gesehen.
Bisher war Gisa stolz gewesen, aber in dieser Nacht wurde sie böse. Sie hatte sich in den Fremden verliebt, und jetzt haßte sie nicht nur ihn, sondern jeden, der je um ihre Hand angehalten hatte, und schwor den Männern Rache. »Ich werde nicht eher ruhen«, schrie sie hinaus in die Nacht, »bis ich so reich bin, daß ich mir jeden Mann kaufen kann, den ich will!«
Auch sie verschwand in dieser Nacht aus dem Tal. Und darüber, was mit ihr weiter geschah, wird folgendes erzählt: Sie verließ das Haus, in dem ihr Vater lag, der mit ihrer Hilfe ermordet worden war, und lief hinaus in die Wälder. Dort begegnete ihr noch in der gleichen Nacht ein riesiger Wolf, der sie mit seinen gelben Augen anstarrte und dann auf sie zusprang, um ihr die Kehle durchzubeißen. Doch ehe er sie erreichte, rief Gisa: »Warte, Wolf! Ich will dir und deinem Rudel bessere Nahrung verschaffen.«
»Wie willst du das anstellen, Gisa?« fragte der Wolf.
»Ich werde euch in das reiche Tal von Barleboog führen«, sagte Gisa. »Dort leben die Leute sorglos und sind nicht auf der Hut. Es wird für euch ein Kinderspiel sein, sie zu überfallen. Und ihr werdet dort mit mir herrschen. Das verspreche ich dir.«
Der Wolf blickte sie mit seinen gelben Augen an und sagte: »Du bist böse, Gisa, und das gefällt mir sehr. Aber ich will dir drei Bedingungen stellen, ehe ich auf deinen Vorschlag eingehe.«
»Stelle deine Bedingungen«, sagte Gisa ohne Zögern. »Ich will sie dir erfüllen.«
»Dann höre!« sagte der Wolf. »Bist du noch Jungfrau?«
»Ja«, sagte Gisa. »Ich habe noch mit keinem Manne geschlafen, denn sie waren es alle nicht wert.«
»Das ist gut«, sagte der Wolf. »Es heißt, wenn eine Jungfrau einem Wolf freiwillig von ihrem Blut zu trinken gibt, dann wird er die Gestalt eines Menschen annehmen, solange die Sonne am Himmel steht. Willst du das für mich und mein Rudel tun?«
»Ja«, sagte Gisa, »ich werde euch mein Blut zu trinken geben.«
»Dann höre das zweite«, sagte der Wolf. »Solange wir in diesem Wald sind, sollst du jede Nacht bei mir liegen und meinen Pelz kraulen.«
»Wenn’s weiter nichts ist«, sagte Gisa. »Komm zu mir, Wolf, damit ich dich kraulen kann.« Und der Wolf kam zu ihr, legte seinen Kopf in ihren Schoß, und während sie ihn kraulte, fragte Gisa nach der dritten Bedingung.
»Das ist die schwerste«, sagte der Wolf. »Du sollst selbst zur Wölfin werden, wenn du je einen Mann von Herzen liebgewinnst. Ist dir das recht?«
Gisa lachte so grell, daß selbst der Wolf in ihrem Schoß zusammenzuckte. »Das ist die leichteste!« sagte Gisa. »Es ist mir recht, denn dieses Versprechen werde ich wohl nie einlösen müssen.«
»Das ist gut«, sagte der Wolf, »denn wenn dies geschähe, müßten auch wir wieder für immer Wölfe bleiben.« Dann stand er auf und heulte hinaus in die Nacht, um sein Rudel zusammenzurufen. Bald hörte Gisa die Wölfe durch den Wald herantraben, doch die Nacht war so finster, daß Gisa nur die glimmenden Augen sehen konnte, die jetzt einen Kreis um sie bildeten.
»Nun gib uns dein Blut zu trinken, Gisa«, sagte der alte Wolf. Da nahm Gisa ein Messer und schnitt sich in den linken Arm, daß das Blut heruntertropfte. Einer nach dem anderen kamen die Wölfe zu ihr und leckten das Blut von der Wunde. Dann legte sich das Rudel an dieser Stelle schlafen, und Gisa nahm den alten Wolf in ihre Arme und kraulte seinen Pelz.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, lag sie in den Armen eines Mannes, dessen Haar und Bart so dicht waren wie das Fell eines Wolfes, und ihre Hand krallte sich in die Pelzjacke, die dieser Mann trug. Gisa blickte sich um und sah rings im Kreis fünfzig Männer liegen, alle mit graubraunem Haar und Bart und in Kleidern aus Wolfspelz. Da stand sie auf und rief: »Wacht auf, meine Wölfe! Wir wollen nach Barleboog laufen!«
Zwölf Tage lang trabten sie durch den Wald, und jede Nacht blieb Gisa bei dem alten Wolf, um ihn zu kraulen. Am Abend des zwölften Tages standen sie am Waldrand, blickten hinunter in das weite Tal von Barleboog und sahen das Schloß auf seinem Hügel inmitten der Felder und Wiesen
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