Stein und Flöte
ging über die Wiesen auf ihn zu. Je näher sie kam, desto schöner erschien sie ihm, und als sie schließlich vor ihm stand, trat das Erinnerungsbild, das er von ihr mit sich getragen hatte, wie ein blasses Schemen zurück vor der Schönheit dieser Frau, die ihn aus ihren schwer zu beschreibenden Augen anblickte.
»Wo bist du so lange gewesen, Lauscher?« fragte sie.
Da erzählte er ihr, wie es ihm bei den Blutaxtleuten ergangen war und auf welche Weise er von Urlas Stummheit erfahren hatte. »Schneefink hat mir geholfen, von dort wegzukommen«, sagte er.
»Ich hatte schon erfahren, daß du unterwegs warst«, sagte Arnilukka.
»Deine Fische?« fragte Lauscher, und als Arnilukka nickte, sagte er: »Du hast zuverlässige Boten. Es war wohl falsch von mir, daß ich vor dir davongelaufen bin, wenn ich auch nicht im Sinn hatte, mich in eine solche Abgeschiedenheit zu begeben. Ich habe dort oben in den Bergen oft an dich denken müssen. Vielleicht sollten wir uns doch nicht so völlig aus den Augen verlieren, auch wenn du jetzt einen andern Mann hast.«
»Belarni ist mit mir bis zu den Hirtenhäusern geritten«, sagte Arnilukka, »aber er war der Meinung, ich solle erst einmal allein mit dir sprechen. Weißt du, daß er dein Freund ist?«
»Ja«, sagte Lauscher, »das habe ich ebensowenig vergessen wie die Farbe deiner Augen, obwohl ich mir dein Gesicht zuletzt kaum noch vorstellen konnte. Aber deine Augen waren bei mir, als trüge ich Arnis Stein noch immer auf der Brust.«
»Ach, Lauscher«, sagte Arnilukka und nahm ihn in die Arme, »so ist es nun einmal, und ich bin schon froh, daß du jetzt zurückgekommen bist.«
Lauscher verlor sich im verwirrenden Farbenspiel ihrer Augen, und der berauschende Duft ihres Haares raubte ihm fast die Besinnung. Doch da wurde er unsanft aus diesem Versinken in die Wirklichkeit zurückgeholt: Er spürte einen derben Schlag auf dem Fuß, und da hatte sich doch wahrhaftig der Zirbel zu Wort gemeldet, den er in Arnilukkas Umarmung hatte aus der Hand gleiten lassen und der mit seinem knubbeligem Kopf auf seine Zehen gefallen war. »Schon gut, Zirbel«, murmelte er, »ich habe schon verstanden.« Er löste sich aus ihren Armen und sagte: »Setz dich zu mir an den Waldrand, Arnilukka, und erzähle mir von der kleinen Urla. Ist sie wirklich so stumm, wie die Leute sagen?«
Arnilukka schaute eine Weile schweigend vor sich hin ins Gras, nachdem sie sich gesetzt hatte, und dann sagte sie: »Wenn du damit meinst, daß sie nicht reden kann wie ein Mensch, dann ist sie stumm. Aber sie plappert oft in merkwürdigen Lauten vor sich hin, so daß man manchmal meinen möchte, sie spräche eine Sprache, die keiner verstehen kann. Vieles, was man ihr sagt, scheint sie zu begreifen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie die Worte wirklich versteht oder auf eine andere Weise aufnimmt, was man ihr mitteilen will. Sie ist lieb und freundlich und auch geschickt bei allen möglichen Arbeiten, aber ich habe keine Ahnung, was sie denkt oder was in ihr vorgeht.«
»Wie versteht sie sich mit Tieren?« fragte Lauscher.
Arnilukka blickte ihn überrascht an. »Merkwürdig, daß du das fragst«, sagte sie. »Urla hält sich am liebsten bei Tieren auf und geht auf eine so selbstverständliche Weise mit ihnen um, wie ich es noch nie bei einem Kind gesehen habe. Wenn ein Tier krank ist, weiß sie sofort, was ihm fehlt, und zeigt einem dann, was man tun muß.«
Lauscher nickte, denn er hatte dergleichen schon vermutet. Dann fragte er Arnilukka, ob ihr Ruzzo erzählt habe, auf welche Weise er dem Kind helfen wolle.
»Ja«, sagte Arnilukka, »und ich habe unterwegs immer wieder darüber nachgedacht, ob man dieses Wagnis eingehen soll. Es kann für uns alle gefährlich werden, vor allem aber für Urla selbst.«
»Ich weiß«, sagte Lauscher, »doch ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, daß sogar in einer Zauberhexe wie Narzia noch etwas lebt, das sie zum Guten bewegen könnte. Aber wenn dir der Preis zu hoch erscheint, den es vielleicht kosten wird, dann reitest du besser mit Urla wieder zurück nach Arziak. Ich will nichts gegen deinen Willen tun.«
»Nein«, sagte Arnilukka. »Wir müssen diese Gefahr auf uns nehmen. Ist es nicht so, daß wir sonst jede Hoffnung verlieren würden, daß das Gute in dieser Welt stärker ist als das Böse? Wie sollte man dann noch leben?«
Sie vereinbarten noch, wo und zu welcher Zeit sie sich am Morgen treffen wollten, und dann kehrte Arnilukka zurück zu den Hirtenhäusern.
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