Stein und Flöte
als er bisher geahnt hatte. Bald darauf verabschiedete sich Ruzzo, um noch alles für den morgigen Ritt vorzubereiten.
In dieser Nacht konnte Lauscher nicht einschlafen. Er lag neben dem ruhig atmenden Jungen auf der Bettstelle und grübelte darüber nach, was der Falke oder richtiger: was Narzia wohl tun würde, wenn sie ihren Zauberschmuck erst einmal in den Klauen hatte. Es konnte geschehen, daß sie alle, die dabei zugegen waren, in Tiere verwandelte oder daß sie sich wieder als Falke in die Luft erhob und das Kind in seiner Stummheit zurückließ. All das traute er ihr ohne weiteres zu, aber er sah auch keinen Weg, auf dem sich diese Gefahr umgehen ließ. »Was soll ich tun, Zirbel?« sagte er und nahm seinen Stock zur Hand. »Wie ich es auch drehe und wende: Wir alle werden Narzia hilflos ausgeliefert sein, sobald ich ihr Kette und Ring gegeben habe, und ich habe nicht einmal meine Flöte, um sie vor dem Schlimmsten zurückzuhalten.«
»Warum fängst du so etwas dann überhaupt an?« sagte der Zirbel. »Erst willst du wieder einmal den Retter der Menschheit spielen, und wenn’s dann ernst wird, kriegst du’s mit der Angst zu tun. Was hast du eigentlich im Sinn?«
»Meiner Tochter zu helfen, sonst gar nichts«, sagte Lauscher.
»Und Arnilukka?« fragte der Zirbel. »Du siehst doch wohl auch sie ganz gern einmal wieder?«
»Natürlich«, sagte Lauscher. »Aber ich mache mir da keine falsche Hoffnung mehr.«
»Falsche Hoffnung?« sagte der Zirbel befremdet. »Was soll denn das nun wieder heißen? Ich will dir einmal etwas sagen: Was du da meinst, ist überhaupt keine Hoffnung, denn sonst würde sie weiter reichen als dein bißchen Leben. Aber diese richtige Hoffnung brauchst du durchaus nicht zu verlieren.«
Trotz des sarkastischen Tonfalls wirkten diese Worte auf Lauscher eher tröstlich, so als habe nicht der Zirbel, sondern die Zirbelin zu ihm gesprochen. »Ich will mich bemühen«, sagte er, »beides auseinanderzuhalten, die richtige Hoffnung und die falsche, die gar keine ist, wie du sagst.«
»Wirst du dich auch dann noch an diesen feinen Unterschied erinnern, wenn Arnilukka leibhaftig vor dir steht?« fragte der Zirbel.
Lauscher spürte sein Herz schneller schlagen bei dieser Vorstellung. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Vielleicht bist du dann so freundlich, mich daran zu erinnern.«
»Wenn du mich fragst«, sagte der Zirbel. »Du weißt ja, daß ich nur dann spreche, wenn man mich anredet.«
»Ich denke, du hast noch ganz andere Möglichkeiten, mich auf dich aufmerksam zu machen«, sagte Lauscher. »Ganz so hilflos bist du darin nicht, wie mir scheint.«
Der Zirbel kicherte hölzern und sagte: »Sehr sicher scheinst du deiner Sache ja nicht zu sein, aber wann ist das schon einer von deiner Art, insoweit er ehrlich mit sich selbst ist. Solange du nur an diese kleine Urla denkst, müßte schon alles so ablaufen, wie du es dir vorgestellt hast. Vielleicht solltest du dich nicht allzusehr auf dich selbst verlassen, sondern darauf hoffen, daß man dich in dieser Sache nicht allein läßt, solange du dir wenigstens ein bißchen Mühe gibst, bei dem zu bleiben, was du dir vorgenommen hast.«
Lauscher spürte jetzt wieder einmal den süßen, harzigen Duft dieses uralten Baumwesens, und das weckte in ihm eine Empfindung, als nehme ihn die mütterliche Zirbelin in ihre Arme wie ein Kind, das nicht mehr aus noch ein weiß in seiner Unsicherheit. »Schlaf jetzt, Lauscher«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme, die so ganz anders klang als die spöttische, knarrende Stimme des Zirbels. »Schlaf ein und habe ein bißchen Vertrauen. Mit dieser stümperhaften Art von Zauberei, wie sie Narzia betreibt, ist unsereins noch immer fertig geworden.«
Die nächsten zwei Tage verbrachte Lauscher zum größten Teil am Waldrand, schaute hinaus auf die Wiesen und sah den Pferden zu, die grasend langsam dahinschritten und nur hie und da den Kopf hoben, um zu ihm herüberzublicken. Und jedesmal, wenn er zum Himmel hinaufschaute, sah er ganz hoch oben unter den Wolken den Falken seine Kreise ziehen. Am späten Nachmittag des zweiten Tages kamen ein paar Reiter talaufwärts geritten; Lauscher sah sie schon von weitem, und auch der Falke stand jetzt niedriger über ihnen. Nach einer Weile konnte Lauscher erkennen, daß dort zwei Männer, eine Frau und ein Kind auf die Hirtenhäuser zutrabten, und da wußte er, daß Arnilukka gekommen war.
Kurze Zeit später tauchte sie schon wieder zwischen den Blockhütten auf und
Weitere Kostenlose Bücher