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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Lauscher sah sie langsam über die Wiesen gehen und konnte überhaupt nicht mehr begreifen, daß er einmal beschlossen hatte, ihr aus dem Weg zu gehen. Er war erstaunt, wie wenig es ihm jetzt ausmachte, daß sie nun zu Belarni ging. Viel wichtiger war die Freude darüber, daß es sie gab, daß sie nicht nur ein Traumbild war, das er sich selbst zurechtgemacht hatte. Sie lebte, sie war da, und sie vertraute ihm, und all das erfüllte ihn mit Freude, als er zwischen den Bäumen zu der Holzfällerhütte zurückschlenderte, nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Falke noch immer niedrig über der Talsohle schwebte.
    Am nächsten Morgen stand Lauscher mit Schneefink schon bei Sonnenaufgang am Waldrand und schaute hinüber zu den Hirtenhäusern. Kurze Zeit später sah er Belarni mit Arnilukka und der kleinen Urla aus der Tür treten. Sie faßten beide das Kind bei der Hand und kamen so auf ihn zugegangen.
    Lauscher hatte jetzt nur Augen für das Mädchen. Es war etwa so alt wie Arnilukka damals gewesen war, als er sie zum ersten Mal in Arziak getroffen hatte, und es hatte die gleichen Augen wie sie. Auf der Brust trug es in einem zierlichen Gitter aus Silberdraht Arnis Stein. Urla blickte Lauscher schon im Näherkommen unverwandt ins Gesicht, und als sie vor ihm stand, sagte sie: »Du bist der Mann, der meine Wiege gemacht hat.«
    »Ja, der bin ich«, sagte Lauscher, und erst als er die verblüfften Mienen von Arnilukka und Belarni sah, wurde ihm bewußt, daß Urla mit ihm in einer Sprache gesprochen hatte, die am ehesten wie die der Ziegen klang. Da lachte er und sagte: »Das Kind ist nicht stumm. Ihr versteht nur die Sprache nicht, die es spricht.«
    »Das hast du schon gestern vermutet«, sagte Arnilukka.
    »Ja«, sagte Lauscher, »aber ich war mir meiner Sache noch nicht sicher.«
    Ehe die beiden noch etwas sagen konnten, redete Urla weiter und sagte: »Ich kenne all die Geschichten von dir. Deine Tiere haben sie mir erzählt: der lustige Esel Jalf, der Bock Einhorn mit seinen Ziegen, Goldauge, Nadelzahn und die Schlange Rinkulla und die drei Mäuse mit den langen Namen, die ich immer verwechsle. Schon als ich noch in meiner Wiege lag, haben sie mir Geschichten erzählt, aber meine beiden Brüder, die nach mir in der Wiege gelegen haben, konnten sie nicht verstehen. Jetzt habe ich die Wiege wieder in meinem Zimmer stehen und kann mich mit deinen Tieren unterhalten. Die Mäuse mag ich am liebsten.«
    »Das kann ich gut verstehen«, sagte Lauscher. »Niemand hat mir so geholfen wie diese tapferen Mäuse. Aber jetzt laß mich erst einmal Belarni begrüßen.«
    Er wollte Belarni die Hand reichen, aber der umarmte ihn wie einen Freund und sagte: »Auch ich bin froh, Lauscher, daß du wieder hier bist. Und jetzt, wo ich sehe, wie du mit Urla sprichst, bin ich sicher, daß dir gelingen wird, was du dir vorgenommen hast.«
    Belarni trug noch immer seine Schläfenzöpfe, und als er Lauschers Blick bemerkte, sagte er: »Ja, wir, die in der Steppe zu Hause waren, haben unsere Zöpfe nicht abgeschnitten wie Arnis Leute. Es sollte keiner auf den Gedanken kommen, daß es genüge, das Äußere zu verändern, wenn man das ganze Leben ändern muß.«
    Während sie noch miteinander sprachen, hatte Lauscher schon den Falken bemerkt, der niedrig über die Wiesen herangestrichen war und sich jetzt auf einem Baumstumpf am Waldrand niederließ. »Nun wirst du mir wohl mein Eigentum zurückgeben müssen, wenn das Kind lernen soll, wie ein Mensch zu sprechen«, sagte der Vogel.
    Sobald sie diese für sie unverständliche Stimme hörten, die doch nicht wie die Stimme eines Falken klang, nahmen Arnilukka und Belarni das Mädchen zwischen sich, als müßten sie es vor dem zauberischen Wesen behüten.
    »Den beiden ist die Sache wohl nicht ganz geheuer?« sagte der Falke spöttisch. »Gib mir jetzt den Schmuck, Lauscher! Oder hast du dir’s anders überlegt?«
    »Nein«, sagte Lauscher. »Ich vertraue darauf, daß du zu deinem Wort stehst.«
    Er ging die wenigen Schritte hinüber zu dem Baumstumpf und legte Kette samt Ring auf das grauschwarz verwitterte Holz.
    Jetzt geschah alles sehr schnell: Der Falke beugte seinen schmalen Kopf hinab zu der Kette, und im nächsten Augenblick schon stand statt seiner Narzia an dieser Stelle und streifte sich den Ring über den Finger. Der Falkenschmuck schmiegte sich golden blitzend um ihren schmalen Hals, und sie sah so jung aus wie an dem Tag, als Lauscher sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie ging

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