Stein und Flöte
langsam auf die kleine Urla zu und blieb dicht vor ihr stehen. »Einen schönen Schmuck hast du da am Hals hängen«, sagte sie mit schmeichlerischer Stimme und griff nach dem Stein. Dann fügte sie unvermittelt scharf hinzu: »Gib das Ding her, wenn du nicht stumm bleiben willst!«
»Das war nicht ausgemacht!« rief Lauscher.
»Ausgemacht oder nicht ausgemacht!« sagte Narzia. »Das hättest du dir früher überlegen müssen, du Dummkopf! Jetzt, wo ich meinen Falkenring wieder am Finger trage, solltest du dich hüten, mir etwas zu verweigern. Du müßtest doch am besten wissen, wie sich einer fühlt, den meine Zauberkraft getroffen hat.«
Urla schaute noch immer dieser jungen Frau, die so plötzlich hier erschienen war, in die grünen Augen. Sie hatte wohl kaum verstanden, was Narzia gesagt hatte, aber sie begriff sehr gut, was diese Frau von ihr wollte. Mit einer raschen Bewegung streifte sie die Kette über ihren Kopf, an der Arnis Stein hing, und legte sie zu dem Kleinod in Narzias Hand. »Ich schenke dir den Stein«, sagte sie in ihrer merkwürdigen Sprache. »Weißt du nicht, daß es Unheil bringt, wenn man ihn sich nimmt? Man muß ihn geschenkt bekommen, dann bringt er Glück.«
Daß Narzia die Worte des Mädchens nicht verstanden hatte, war offensichtlich. Sie blickte gierig auf den Stein und sagte: »Du bist ein kluges Kind, daß du mir das Glitzerding freiwillig gibst. Es wäre dir schlecht bekommen, wenn du es mir verweigert hättest.« Dann schaute sie Lauscher triumphierend an. »Nun hast du das Spiel doch noch verloren. Jetzt hält mich hier nichts mehr zurück.« Sie öffnete die Kette, an der Arnis Stein hing, um sie sich um den Hals zu legen. Belarni, der diese Szene mit wachsendem Zorn beobachtet hatte, wollte vortreten und sie daran hindern, aber Lauscher hielt ihn zurück und schüttelte den Kopf. Er wünschte sich verzweifelt, daß er seine Flöte zur Hand gehabt hätte. Wahrscheinlich wäre er in diesem Augenblick fähig gewesen, jeden nur möglichen Zwang auf diese grünäugige Hexe auszuüben, aber das Wünschen half nichts, denn das Instrument lag unerreichbar in Laiannas Obhut auf dem tiefsten Grund des Sees.
Narzia hatte die Kette inzwischen in ihrem Nacken geschlossen, und nun schimmerte der Augenstein auf ihrer Brust. Und im gleichen Augenblick wandelte sich der Ausdruck ihres Gesichts. Lauscher bemerkte es sofort. Ihr Gesicht wirkte wie das eines Menschen, der aus einem Haßtraum erwacht: Der Ausdruck des höhnischen Triumphes war wie weggewischt. Ihre Züge glätteten sich, daß sie ihm schöner erschien, als er sie je gesehen hatte, und sie schaute das Mädchen an, als erblicke sie es zum ersten Mal. »Komm zu mir, Urla!« sagte sie mit völlig veränderter Stimme. »Komm, damit ich dir für den Stein danke. Mir ist zumute, als sei ein Zauberreifen aufgesprungen, der mein Herz bisher umschlossen hatte.«
Sie nahm das Kind in die Arme, und während sie es an sich drückte, legte sie ihm die Hand mit dem Falkenring auf die Lippen und flüsterte: »Sprich wie ein Mensch, kleine Urla!« Während sie das noch sagte, schien ihr Gesicht zusehends zu altern. Ihre Hände zitterten schon wie die einer Greisin, als sie die Kette mit Arnis Stein wieder von ihrem Hals löste und dem Mädchen umlegte. »Wenigstens einmal im Leben möchte ich etwas verschenken«, flüsterte sie. »Ich schenke dir den Stein zurück, und ich bin sicher, daß du seinem Glanz folgen wirst.«
Ihr Leib war schon so eingefallen und gebrechlich, daß Urla sie stützen mußte, damit sie nicht zusammenbrach. Ihre grünen Augen waren noch klar wie der Smaragd auf dem Ring, aber ihr Blick hatte sich völlig gewandelt, als sie jetzt Lauscher anschaute und sagte: »Spiel mir etwas auf deiner Flöte, solange ich noch hören kann!«
Jetzt erst hatte Lauscher wirklich Grund zu bedauern, daß er die Flöte nicht bei sich trug, aber während er noch unschlüssig dastand und nicht wußte, was er tun sollte, hatte Schneefink seine Flöte schon an die Lippen gesetzt und fing an zu spielen. Er begann mit einem leise angesetzten, tiefen Ton, eher schon einer Art Summen, so wie wenn der Wind durch das Steppengras streicht, und dieser Ton nahm langsam an Lautstärke zu, bis er die Kraft eines Sturmes erreichte, unter dem sich die Halme bis zum Boden biegen; dann nahm dieser Ton wieder ab, aber jetzt lösten sich vereinzelt andere Töne von dieser ungestalteten Ebene, schlossen sich nach und nach zusammen zu einer eintönigen Melodie,
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