Stein und Flöte
mit einem Blick an, den sie wohl ihr Leben lang nicht vergessen würden, und sagte: »Seid jetzt endlich wie Brüder!« Dann wanderte ihr Blick zu ihrem Mann, den man nun auch zu ihr gebracht hatte. In seinem Gesicht stand jetzt nur noch der Ausdruck fassungslosen Entsetzens. Wider alles Erwarten lächelte Urla und schüttelte ein wenig den Kopf, als mache dieser ungefüge Mann allzu viel Aufhebens von dem, was hier geschehen war. Dann tastete sie auf ihrer Brust nach Arnis Stein, der dort in seinem silbernen Käfig hin, und sagte: »Bewahre ihn auf für Rikka!« Als sie auch das geregelt hatte, legte sie sich wie ein Kind im Schoß ihrer Mutter zurecht und starb.
II
Nach Urlas Begräbnis hatte Lauscher beschlossen, noch für eine Weile in Arziak zu bleiben, allerdings weniger deshalb, weil er das Gefühl gehabt hätte, daß er Arnilukka in ihrem Kummer hätte beistehen müssen, denn sie war von einer bemerkenswerten Gefaßtheit; viel eher hatte ihn Belarnis Ratlosigkeit zum Bleiben veranlaßt, und diese Ratlosigkeit hatte ihren Grund keineswegs darin, daß seine beiden Söhne weiterhin in Feindschaft gelebt hätten. Nach den Ereignissen, die zu Urlas Tod geführt hatten, waren beide nicht bei ihren jeweiligen Freunden geblieben, sondern hatten sie einfach stehenlassen, waren nach Hause gegangen und auch dort geblieben. Während der Mahlzeiten saßen sie stumm bei Tisch, wagten kaum die Augen zu heben und stocherten nur ein bißchen in ihrem Essen herum. Man konnte beiden ansehen, daß sie sich schuldig fühlten am Tod ihrer Schwester, und zwar auf eine Weise, die alles in Frage stellte, was sie bisher getrieben hatten, und zugleich war dadurch auch eine neue Art von Gemeinsamkeit zwischen ihnen entstanden; denn sie gingen einander durchaus nicht aus dem Weg, sondern waren oft zusammen anzutreffen, wenn sie auch kaum miteinander zu sprechen schienen.
Belarnis Ratlosigkeit hatte tiefere Wurzeln, und diese traten zutage, als er eines Abends Lauscher bat, bei ihm noch eine Weile sitzen zu bleiben, nachdem Arnilukka das Essen abgetragen hatte und die Brüder hinausgegangen waren. Belarni starrte noch eine Zeitlang vor sich hin auf die Tischplatte und sagte dann mit leiser Stimme, als führe er ein schon lange zuvor begonnenes Selbstgespräch weiter: »Was habe ich falsch gemacht? Kannst du mir das sagen, Lauscher? Hätte ich die beiden Jungen zwingen sollen, sich mit diesen Leuten nicht einzulassen? Oder noch mehr: Hätte ich schon von Anfang an nicht dulden sollen, daß die Reiterjunker und die Goldschmiede sich auf eine solche Weise absondern und die großen Herren spielen? Ich bin nicht so geartet wie Khan Hunli, der jeden unter seinen Willen gebeugt hat. Bisher habe ich immer gehofft, es genüge, daß man den Menschen zeigt, wie man miteinander leben sollte, und sie im übrigen in Freiheit ihren eigenen Weg finden läßt.
»So darfst du diese Frage nicht stellen«, sagte Lauscher. »Auch Hunli hat nicht verhindern können, daß Höni sich seinem Willen widersetzte und mit einem großen Teil der Horde davonzog.«
»Und damit hat damals alles Unheil seinen Anfang genommen«, sagte Belarni.
»Nein«, sagte Lauscher. »Der Beginn des Unheils liegt nicht in solchen Ereignissen wie der Großen Scheidung, sondern in den Gedanken und Begierden einzelner Menschen, denen es darum geht, Macht über andere zu gewinnen; und da der Mensch nun einmal so geartet ist, daß er der Versuchung der Macht allzu leicht erliegt, wird dieses Unheil wohl nie ganz aus der Welt zu schaffen sein.«
»Du hast leicht reden«, sagte Belarni. »Ein Flöter wie du kann sich aus all diesen Streitereien heraushalten und seiner Wege gehen. Aber ich bin für die Leute von Arziak verantwortlich, und alles, was hier geschieht, fällt zurück auf meine Schultern. Auch Urlas Tod. Und der Traum vom friedlichen Zusammenleben wenigstens der Menschen hier in diesem Tal zerrinnt mir dabei unter den Händen.« Er legte seine leeren Hände geöffnet vor sich auf den Tisch, als wolle er zeigen, was ihm von diesem Traum geblieben war.
Während er Belarni so ratlos vor sich sitzen sah, mußte Lauscher an Barlo denken, unter dessen ordnender Gerechtigkeit die Menschen in Barleboog friedlich miteinander lebten, und er fragte sich, woher ihm dann diese Bedrückung gekommen sein mochte, die ihn im Wirkungsbereich dieses Richters mehr und mehr beschwert hatte. »Ich muß dir erzählen, Belarni«, sagte er, »wie es mir in Barleboog ergangen ist. Barlo, mit dem ich
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