Steinbock-Spiele
Lichtscheins vom Lagerfeuer kauerten. Sie lauschten aufmerksam, nickten, schienen zu begreifen, murmelten gelegentlich untereinander. Wie seltsam: sie schienen zu begreifen.
»Die Geschichte von Samson und Odysseus«, verkündete Breckenridge. »Samson ist blind, aber ungeheuer stark. Seine Frau heißt Delilah. Zu ihnen kommt der verschlagene Häuptling Odysseus, der vom Land Ithaka heimwärts zieht. Er durchdringt das Labyrinth, in dem Samson und Delilah leben, verdingt sich bei ihnen als Knecht und gibt seinen Namen als Niemand an. Delilah verleitet ihn dazu, sie zu entführen, und er schleppt sie fort. Samson nimmt die Entführung wahr, kann sie aber im Labyrinth nicht finden. Er schreit in Wut und Schmerz: ›Niemand stiehlt meine Frau! Niemand stiehlt meine Frau!‹ Seine Diener sind verwirrt und unternehmen nichts. In äußerster Wut reißt Samson das Labyrinth auf sich herab und stirbt, während Odysseus Delilah nach Sparta bringt, wo sie von Paris, dem Prinzen von Troja, verführt wird.
Odysseus verliert sie so und verführt aus Rache Helena, die Königin von Troja, worauf der Trojanische Krieg beginnt.«
Und dann erzählte er die Geschichte von der Erschaffung der Menschheit:
»Im Anfang gab es nur ein Feld aus weißem Sand. Der Blitz schlug ein, und wo er den Sand traf, schmolz er zu einem Gefäß aus Glas zusammen, Regenwasser lief in das Gefäß und erweckte es zum Leben, und aus dem Gefäß wurde eine Wölfin geboren. Donner drang in ihren Schoß und befruchtete sie, und sie gebar Zwillinge, und sie waren keine Wölfe, sondern ein Menschenjunge und ein Menschenmädchen. Die Wölfin säugte die Zwillinge, bis sie erwachsen wurden. Dann paarten sie sich und zeugten eigene Kinder. Weil sie sich ihrer Nacktheit schämten, töteten sie die alte Wölfin und machten sich Kleidung aus ihrem Fell.«
Und er erzählte ihnen den Mythos vom Wandernden Juden, der Gott verspottete und dazu verurteilt war, durch die Zeit zu wandern, bis er selbst Gott werden konnte.
Und er erzählte ihnen vom Goldenen Zeitalter und dem Zeitalter des Eisens und dem Zeitalter des Urans.
Und er erzählte ihnen, wie die Wasser und die Winde entstanden waren, die Jahreszeiten, die Monate, der Tag und die Nacht.
Und er erzählte ihnen, wie die Kunst geboren wurde: »Aus einem Loch im Weltraum ergießt sich ein Strom reiner Lebenskraft. Viele Männer und Frauen versuchten, den Strom zu fassen, aber sie wurden von seiner Feurigkeit zu Asche verbrannt. Schließlich fand ein Mann jedoch einen Weg. Er höhlte sich aus, bis in seinem Körper nichts mehr war, und ließ sich von einem treuen Hund zu dem Ort schleifen, wo der Energiestrom vom Himmel herabfloß. Dann drang die Lebenskraft in ihn ein und füllte ihn aus, und statt ihn zu vernichten, ergriff sie Besitz von ihm und belebte ihn wieder. Aber die Kraft in ihm floß über, schwappte hinaus, und damit konnte er nur fertig werden, indem er Geschichten und Skulpturen und Lieder erfand, denn sonst hätte die Kraft ihn überwältigt und ertränkt. Er hieß Gilgamesch und war der erste Künstler der Menschheit.«
Die Stadtbewohner kamen jetzt zu Tausenden. Sie lauschten und weinten bei Breckenridges Worten.
Hypothese struktureller Lösung: Er findet schöpferische Erfüllung.
Die vier Sucher
haben Raum und Zeit überbrückt, um das Leben aus dem Tod zu holen.
Die schlafenden Stadtbewohner werden geweckt werden.
Mit der Zeit bildeten sich die Umrisse eines Groß-Mythos: die Schöpfung, die Schöpfung des Menschen, der Ursprung des Privateigentums, der Ursprung des Todes, der Verlust der Unschuld, der Verlust des Glaubens, das Ende der Welt, das Erscheinen eines Erlösers, um den Zyklus erneut auszulösen. Bald würde das Gefüge vollständig sein. Wenn es fertig war, dachte Breckenridge, würde vielleicht Regen auf die Wüste fallen, würde die Welt vielleicht wiedergeboren werden.
Breckenridge schlief. Schlafend erlebte er ein inneres Glühen goldenen Lichts. Das Mädchen, dem er vorher schon begegnet war, kam zu ihm, ergriff seine Hand und führte ihn durch die Stadt. Sie gingen stundenlang, wie es schien, bis sie einen Schacht erreichten, der sich von allen anderen unterschied, nicht rund, sondern rechteckig, in Straßenhöhe umgeben von einem niederen Geländer aus glänzendem Metall. »Steig hier hinunter«, sagte sie. »Wenn du unten bist, geh weiter, bis du den Raum erreichst, wo die Mechanismen des Erweckens sind.« Er sah sie entgeistert an, weil er begriffen hatte, daß ihre
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