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Steinbock-Spiele

Steinbock-Spiele

Titel: Steinbock-Spiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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er. Ich bin Orpheus, der süße Sänger. Ich bin Homer, der Blinde. Ich bin Noel Breckenridge. Er blickt durch die Äonen auf Harry Munsey. »Ich habe mich geirrt«, sagte er. »Überall ist Sinn, Harry. Für Sam Smith ebenso wie für Beethoven. Für Noel Breckenridge ebenso wie für Michelangelo. Tagesanbruch für Tagesanbruch, einfach leben, ein Teil von allem zu sein, ein Teil vom kosmischen Tanz des Lebens – das ist der Sinn, Harry. Schau! Schau!« Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel – keine grausame Sonne, sondern eine milde, sanfte, ihre Hitze von feuchtem Dunst gemildert. Das ist die Traum-Zeit, wenn alle Fehler ungeschehen gemacht werden, wenn alle Dinge eins werden. Die Stadtbewohner umringen ihn. Sie kommen näher. Noch näher. Sie greifen nach ihm. Er erlebt einen köstlichen Blitz aus weißem Licht. Die Welt verschwindet.
    »JFK-Flughafen«, sagte er zum Taxifahrer. Das Taxi brauste davon. Aus dem Autoradio tönte eine Stimme, die den letzten Stand des Dow Jones-Aktienindex durchgab: 948,72, Rückgang 6 Punkte. Er erreichte den Flughafen um halb sechs Uhr und bestieg um sieben Uhr eine PanAm-Maschine nach London. Am nächsten Morgen um neun Uhr, Londoner Zeit, telegrafierte er seiner Frau, um ihr mitzuteilen, daß es ihm gutgehe und er den Winter über nach Süden gehen wolle. Dann meldete er sich beim Air-France-Schalter für den Nonstop-Flug nach Marokko. Im Laufe der folgenden Woche telegrafierte er von Rabat, Marrakesch und Timbuktu in Mali nach Hause. Das dritte Telegramm lautete: ›WEISST DU WAS STOP BIN WIRKLICH IN TIMBUKTU STOP HABE JEEP GEMIETET STOP MORGEN FAHRE ICH IN DIE SAHARA STOP BIN SEHR GLÜCKLICH STOP JA STOP SEHR GLÜCKLICH STOP SEHR SEHR GLÜCKLICH STOP STOP STOP‹
    Es war die letzte Nachricht, die er schickte. In der Nacht, als sie in New York eintraf, gab es ein spektakuläres Himmelsschauspiel, ein Nordlicht, das Tausende von Menschen in den Central Park lockte. Vier Tage später regnete es in der südöstlichen Sahara, der erste registrierte Niederschlag dort seit acht Jahren und sieben Monaten. Aus Süd-Sizilien wurde ein Erdbeben gemeldet, aber es richtete geringen Schaden an. Danach war es für alle viel ruhiger.

Schiff-Schwester, Sternen-Schwester
    Sechzehn Lichtjahre heute von der Erde entfernt, im fünften Monat der Reise, und der lautlose Puls der Beschleunigung treibt die Geschwindigkeit immer höher. Im Salon des Schiffes sind drei Go-Partien im Gange. Der Jahres-Kapitän steht am Eingang zum Salon und beobachtet beiläufig die Spieler: Roy und Sylvia, Leon und Tschiang, Heinz und Elliott. Go ist seit Wochen an Bord des Schiffes eine Manie. Die Spieler – an die achtzehn oder zwanzig Mitglieder der Expedition sind bisher von der Sucht erfaßt worden – sitzen Stunde um Stunde, bedenken Strategien, erfinden Variationen, ergreifen die glatten schwarzen oder weißen Steine mit Zeige- und Mittelfinger, legen die Steine mit dem angemessenen harten Klackgeräusch auf das Holzbrett. Der Jahres-Kapitän selbst spielt nicht, wenngleich ihn das Spiel einmal vor langer Zeit bis zur Besessenheit interessiert hat; seine Verantwortung beansprucht ihn so sehr, daß eine Übung in simulierter Gebietseroberung keinen Reiz mehr für ihn hat. Er kommt aber oft hierher, um zuzusehen, bleibt fünf oder zehn Minuten und geht dann wieder seinen Aufgaben nach.
    Der beste von den Spielern ist Roy, der Mathematiker, ein großer, schwerer Mann mit weichem, schläfrigem Gesicht. Er sitzt mit geschlossenen Augen und wartet in Ruhe, bis er am Zug ist. »Ich reinige mich von der Notwendigkeit, zu gewinnen«, hat er gestern zum Jahres-Kapitän gesagt, als er gefragt wurde, was ihn beschäftigt, während er wartet. Gereinigt oder nicht, Roy gewinnt mehr als die Hälfte seiner Spiele, obwohl er seinen Gegnern einen Vorsprung von vier oder fünf Steinen zugesteht.
    Sylvia gibt er einen Vorsprung von nur zwei Steinen. Sie ist eine zierliche Frau, zartknochig und scheu, Genetikerin, und sie spielt gut, wenngleich langsam. Sie zieht. Bei dem Geräusch öffnet Roy die Augen. Er betrachtet das Brett, deutet hin und sagt: »Atari«, die übliche Art, die Aufmerksamkeit des Gegners darauf zu lenken, daß der Zug es ihm ermöglichen wird, mehrere seiner Steine zu schlagen. Sylvia lacht halblaut und nimmt den Zug zurück. Nach einer kurzen Pause zieht sie wieder. Roy nickt und greift nach einem weißen Stein, den er fast eine Minute in den Fingern hält, bevor er ihn setzt.
    Der Jahres-Kapitän möchte mit

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