Steinbrück - Die Biografie
eine persönliche Erinnerung über die dramatischsten Stunden in der Geschichte des Weltfinanzsystems verfassen würde – das wäre ein Bestseller, keine Frage. Der Plan faszinierte Steinbrück, und so zog er sich kurz nach der Wahl in sein Haus nach Bad Godesberg zurück, um mit der Niederschrift oder besser gesagt: mit dem Diktat des Buches zu beginnen. Er schreibt oder tippt nämlich nicht selbst, sondern diktiert seine Sätze direkt in einen Computer, der die gesprochenen Worte in Schrift umwandelt. Am Anfang ein nervenaufreibendes Unternehmen. »Der Computer und ich haben etwas gebraucht, um uns aneinander zu gewöhnen«, erinnerte sich Steinbrück später. Die Spracherkennung funktionierte zunächst nicht richtig, aber irgendwann lief es.
Wenn er auf diese Weise sprechend schrieb, durfte er nicht gestört werden. Nur gelegentlich konnte ihn seine Frau zu einer Runde Scrabble oder zu einer Mahlzeit überreden, um ihn etwas abzulenken und aus seinen tiefgründigen Gedanken zu reißen. Ansonsten jedoch war während der neun Monate, die er zum Schreiben des Manuskripts benötigte, kaum eine Unterbrechung gestattet. Das Buch musste gut werden, so Steinbrücks eigener, wie immer hoher Anspruch. Natürlich sollte ihm das Werk gewissermaßen bei der Rückkehr ins Rampenlicht helfen, und so durfte die Wertschätzung für die geleistete Arbeit als Bundesfinanzminister nicht zu kurz kommen. Die Gelegenheit, das eigene Bild in der Geschichte der letzten Weltfinanzkrise selbst kräftig mitzugestalten, ließ er sich nicht entgehen. Und wie man so etwas anstellte, hatte Steinbrück, der Büchernarr, bei keinem Geringeren als Winston Churchill abgeschaut, dessen Erinnerungen er »geradezu verschlungen« habe, wie er einmal mit leuchtenden Augen erzählte.
Das Hauptanliegen aber, das Steinbrück mit dem Buch verfolgte, war ein anderes: Er wollte mit seiner durchaus streitbaren Schrift eine breite Debatte darüber in Gang bringen, wie die SPD politisch wieder auf die Höhe der Zeit gelangen könnte. Schnörkellos beschreibt er in einem eigenen Kapitel das große strategische Problem seiner Partei und kommt zu dem Schluss, der SPD fehle eine reale Machtperspektive. Die Linke als potenziellen Koalitionspartner der Sozialdemokraten im Bund lehnt er ab, die FDP in ihrem aktuellen Zustand ebenfalls, und nur auf die Stärke der Grünen kann und will er nicht vertrauen. Steinbrücks Fazit für die kommende Bundestagswahl lautet deshalb: Die SPD selbst muss wieder stärker werden, sich aus ihren programmatischen Verengungen lösen und breitere Wählerschichten in der Mitte der Gesellschaft erschließen. Er will die Partei öffnen: für jüngere Generationen mit ihren spezifischen Sorgen, für Mittelständler und Existenzgründer, für junge Frauen in Großstädten. Das Buch liest sich deshalb stellenweise wie eine Anleitung für seine Partei, wie eine Denkschrift oder gar ein programmatischer Entwurf. »Vermächtnis« wollte Steinbrück seine Niederschrift jedenfalls nie nennen, das klang ihm zu endgültig und zu sehr nach Abschied. Schließlich hat er noch etwas vor.
Als Abrechnung mit den Banken und der Finanzwelt ist das Buch entgegen gelegentlicher medialer Erwartungen nicht konzipiert, das wäre ihm zu billig. Steinbrück hat ausführlich und gut durchdacht seine persönliche Sicht der Dinge zu Papier gebracht, die Ursachen des Desasters an den Finanzmärkten ergründet und über die handelnden Personen berichtet. Dabei räumt er ein, dass er mitunter schlechte Noten verteilt, jedoch weniger an exponierte Bankmanager wie Josef Ackermann, sondern eher an die ehemaligen Politikerkollegen: »Ich komme zu einem nicht sehr schmeichelhaften Urteil über die Qualität der Politik, sowohl was die Parteien angeht als auch die handelnden Personen«, räumte er später in einem Zeitungsgespräch ein.
Je länger Steinbrück vom Herbst 2009 bis zum Frühsommer 2010 an dem Buch arbeitete, desto mehr geriet das als Bericht begonnene Werk zu einem umfassenden persönlichen Regierungsprogramm. Dem späteren Vorwurf, dass er auf den 480 Seiten ein ziemlich düsteres Bild von der Politik und der Finanzwelt zeichne, hat er vehement widersprochen. Schließlich unterbreite er jede Menge Vorschläge, was man wie ändern könnte, teilweise sehr konkret. Die meisten Kapitel beginnen in der Tat mit einer genauen Beschreibung eines Themas. Dann folgen eine messerscharfe Analyse und in der Regel eine ausführliche Erläuterung, wie man die aufgezeigten
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