Steinbrück - Die Biografie
sein Sinneswandel zustande? Warum verzichtet jemand im Alter von 62 Jahren auf einen beschlossenen Rückzug, um sich noch einmal in die Schlacht zu werfen? In eine Schlacht zumal, bei der es um alles oder nichts geht? Deren Ziel ja letzten Endes in nichts Geringerem besteht als in der Eroberung des Kanzleramts? Welche Kräfte haben da in Steinbrück gewirkt? Regierungschef statt Rentner – wie kam es zu dieser beachtlichen Änderung seines Lebensplans?
Die Antwort ist vielschichtig, und es wäre zu einfach, sie nur in Eitelkeit und brennendem Ehrgeiz zu suchen. Beides findet sich zweifellos bei Peer Steinbrück, aber diese Charaktereigenschaften prägen alle Spitzenpolitiker. Sie sind sogar notwendige Voraussetzungen für eine politische Karriere, und das ist keineswegs so negativ gemeint, wie es vielleicht klingt. Denn ohne den unbedingten Willen und den Ehrgeiz, ganz nach oben an die Spitze zu wollen, würde keiner die Kraft und die Motivation aufbringen, um den mörderischen Dauerstress durchzustehen, dem man in einem politischen Spitzenamt ausgesetzt ist. Zudem muss ein Politiker in hohen Ämtern bereit sein, als öffentliche Figur zu leben, das heißt weitgehend ohne Privatleben, ohne nennenswerte Freizeit und fast gänzlich ohne Souveränität über die eigene Zeit.
Der Entschluss von Peer Steinbrück, ein Comeback zu wagen, lässt sich nicht an einem bestimmten Ereignis oder einem einzelnen Datum festmachen. Wahrscheinlich hat sein Sinneswandel bereits früh eingesetzt, ohne dass er es anfangs bemerkte. Man muss sich das ganz bildlich vorstellen und sich dabei in ihn und seine damalige Lage hineinversetzen: Da waren zunächst einmal Hunderte Briefe und Anrufe, die er nach der verlorenen Wahl erhielt. Viele wollten nur Trost spenden, Aufmunterung geben oder einfach mitteilen, wie sehr sie mit Steinbrück und der vernichtend geschlagenen SPD mitfühlten.
Dann gab es die vielen Gespräche, in denen offenes Bedauern darüber ausgedrückt wurde, dass die neue Bundesregierung ohne einen so fähigen Mann wie ihn auskommen müsse. Diese Zeichen der Wertschätzung haben im Laufe der Zeit sicher ihre Wirkung auf Steinbrück entfaltet, unmerklich am Anfang zwar, aber durch sie wird er ins Grübeln gekommen sein, seinen Entschluss zum Rückzug noch einmal zu überdenken. Nicht nur Parteifreunde bestürmten ihn regelrecht, an Bord zu bleiben. Nein, auch Hunderte Bürger und nicht wenige Manager und Wirtschaftskapitäne. Offen erklärten sie ihm, dass so einer wie er fehlen würde und er sich deshalb nicht einfach in den Ruhestand verabschieden dürfe.
Am Anfang mag Steinbrück das nicht ernst genommen ha ben. Schmeicheleien und Lob hören viele Chefs bei ihrem Abschied – die Frage ist nur, wie viel Ehrlichkeit darin steckt. Als aber dann in den Wochen und Monaten nach der Wahl das Bedauern über sein Ausscheiden aus dem Finanzministerium nicht enden wollte und er immer öfter eingeladen wurde, öffentlich über die Krise und ihre Folgen zu sprechen, da begann das süße Gift des öffentlichen Zuspruchs ganz allmählich zu wirken. So schlecht konnte er seine Sache ja nicht gemacht haben, wird er sich angesichts des anhaltenden Interesses an seiner Person gedacht haben. Und wenn ihn die Leute trotz Wahlniederlage und Amtsverlust immer wieder hören und sehen wollten, ihn immer wieder zu Reden und Vorträgen in ganz Deutschland einluden, dann bitte schön!
Die nächste und entscheidende Stufe der Verführung stellten dann vermutlich seine erfolgreichen öffentlichen Auftritten dar, die er ab 2010 in zunehmender Zahl absolvierte. Am Anfang begab er sich vorzugsweise nur in die nähere Umgebung von Bonn, schließlich wollte er die Arbeit am Buch nicht durch weite Reisen vernachlässigen. Doch dem Drängen der SPD im benachbarten Rhein-Sieg-Kreis beispielsweise konnte er im Frühjahr 2010 nicht länger widerstehen. Also fuhr er an einem Sonntag im April die paar Kilometer von seinem Haus in Bad Godesberg nach Meckenheim zu einem seiner ersten öffentlichen Auftritte seit der Bundestagswahl.
Draußen herrscht strahlender Sonnenschein, die Rheinauen sind voll mit Spaziergängern, eigentlich kein gutes Wetter für politische Versammlungen in geschlossenen Räumen. Als Steinbrück im Rathaus Meckenheim eintrifft, findet er den großen Saal bis auf den letzten Platz gefüllt vor. Die Leute sind scharenweise gekommen und drängen sich sogar noch auf den Stehplätzen entlang der Wände. Steinbrück hat sich verfahren und dabei
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