Steinbrück - Die Biografie
ziemlich verspätet, weshalb die örtliche SPD-Prominenz mehr schlecht als recht versuchen muss, die halbe Stunde Wartezeit zu überbrücken. Die Leute murren, doch sie bleiben im Saal. Sie wollen ihn unbedingt sehen, nur für ihn sind sie gekommen und harren aus. Steinbrück murmelt eine Entschuldigung, als er endlich das Rathaus betritt und legt gleich los, ohne Mikrofonprobe und natürlich ohne Redemanuskript. Alan Greenspan, 9/11, Subprimekrise, Dominoeffekt, Bankenrettung, Weltrezession, Griechenland – Steinbrück ist in seinem Element. Die Zuhörer hängen an seinen Lippen.
Es gibt keine Vereinbarung über die Redezeit, also spricht Steinbrück einfach immer weiter, kommt auf die Währungspolitik der neuen Regierung und ihren »fabelhaften Außenminister« zu sprechen. Gelächter im Saal, Steinbrück freut sich, setzt noch einen drauf, geißelt die Neoliberalen, den Stolperstart der schwarz-gelben Bundesregierung und die Großspurigkeit der Banker, die ihn während der Krise ratlos um Geld anbetteln mussten. Nach einer halben Stunde herrscht im Meckenheimer Rathaussaal eine Stimmung wie beim politischen Aschermittwoch in Bayern. Steinbrück ist in Fahrt, lobt die SPD für ihre Reformpolitik und dafür, dass die Genossen durch die Konjunkturprogramme während der Krise einen noch tieferen Einbruch der deutschen Wirtschaft verhindert hätten. Im anschließenden Applaus und der allgemeinen Begeisterung geht völlig unter, dass der Finanzminister Steinbrück zu Beginn der Krise Konjunkturprogramme als Geldverschwendung bezeichnet hat.
Am Ende seines Auftritts sind nicht nur die Zuhörer euphorisch. Auch bei Steinbrück hat es wieder »Klick« gemacht. Der überfüllte Saal, der Applaus, die Fotografen – die Droge Politik beginnt ihn erneut in ihren Bann zu schlagen. Alle Spitzenpolitiker kennen solche Momente – und vermissen sie bei ihrem Ausscheiden schmerzlich, wenngleich das kaum jemand zugibt. Allerdings hat Helmut Kohl diese Mechanismen der Politiksucht einmal ungewöhnlich offen und mit rustikaler Selbstironie beschrieben: »Wissen Sie, das ist wie bei einem alten Schlachtross. Wenn es die vertraute Marschmusik hört, hebt es den Kopf und trabt wieder los.«
Dem Auftritt Steinbrücks in Meckenheim sollten Dutzende, schließlich sogar Hunderte folgen. Egal wo er sprach, überall muss er in den folgenden Monaten gespürt haben, wie sehr die Menschen nach Orientierung lechzten, nach jemandem suchten, der ihnen flüssig, klar und nachvollziehbar erklärte, warum die Welt aus den Fugen geraten war und wie man sie möglicherweise wieder in Ordnung bringen konnte.
Zum Triumphzug geriet schließlich die Präsentation seines Buches im September 2010. Genau ein Jahr nach der Wahlniederlage stürmte der Titel die Bestsellerlisten, Steinbrück war in allen Talkshows präsent und stieg als Weltökonom mit Durchblick und kantigem Charakter auf wie Phönix aus der Asche. Auf einer Lesereise durch ganz Deutschland füllte Steinbrück große Säle, sprach vor laufenden Kameras und war täglich auf den vorderen Zeitungsseiten zu finden. Niemand betrieb ein so cleveres Ich-Marketing wie er. Er stieß auf mehr Resonanz als jeder Wahlkämpfer und das ohne Parteizentrale, ohne Wahlkampforganisation und ohne PR-Maschinerie, wie sie etwa dem SPD-Vorsitzenden Gabriel oder Fraktionschef Steinmeier zur Verfügung standen. Allerdings brauchte er sich bei seinen Lesereisen auch nicht politischen Gegnern, Zwischenrufern oder den sonst üblichen Störern zu stellen. Er trat ja als Privatmann auf, als freier Autor, redete aus eigener Anschauung und Deutungshoheit ohne die Fesseln eines Wahl- oder Parteiprogramms.
Wahrscheinlich ist es gerade das, was die Zuhörer so in den Bann zieht, diese demonstrative Unabhängigkeit, die Steinbrück ähnlich seinem Vorbild Helmut Schmidt mit souveräner Elder-Statesman-Attitüde zelebriert. Die Deutschen verehren ihren gefühlten Dauerkanzler mehr als jeden anderen Politiker. Auch wenn der Platz als Gewissen der Nation mit Schmidt eindrucksvoll besetzt ist, eifert Steinbrück seinem Mentor gerne nach. Die in Deutschland hochgeschätzte Rolle als Klartextredner, Durchblicker und Weltenerklärer – gepaart mit einer gewissen Bärbeißigkeit und Abgeklärtheit – entwickelt sich zum Publikumsmagneten. Die FAZ stellte bei Steinbrück-Auftritten fast ratlos ein »Massenphänomen« fest. Da erzählt eben keiner sein übliches Parteichinesisch, da nimmt keiner Rücksicht auf Regierungsbeschlüsse,
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