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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Einbuchtungen des Schaumstoffs gleich fossilen Knochen
in einer mikadoartigen Anordnung: der Schaft mit eingeklapptem Kolben und
montierter Zieloptik, der Lauf und sein Schalldämpfer, das Zweibein, der
Verschluß, das Magazin sowie eine Packung mit zwanzig Stück Munition.
    "Liebe auf den ersten Blick, nicht wahr?" meinte
Sami und lächelte, als kommentiere er eine delikate Schweinerei. In der Tat
bestätigte sich Tobiks nervöse Vorahnung: Der Anblick der Waffenteile hatte etwas
Betörendes, so unschuldig und rein, wie sie in ihren offenen Särgen lagen, den
Glanz ihrer metallischen Haut zur Schau tragend, und dabei sichtbar
leichtgewichtig und handlich wirkten.
    "Bauen Sie es zusammen", forderte Sami, "das
kriegen Sie hin."
    Tobik löste die Elemente vorsichtig heraus und fügte sie
aneinander. Auch wenn dies keine Kunst war, überraschte trotzdem die Sicherheit,
mit der er die Stücke verband, danach das Zehnermagazin füllte und einpaßte.
    "Wie gesagt, erster Blick, wahre Liebe",
spöttelte Sami und wurde dann sehr viel ernster, indem er die wichtigste Regel
definierte: "Die einzige Berührung von dem Ding, die wirklich einen Sinn
hat, ist, seinen Abzug zu drücken."
    Womit er meinte, daß man, wenn das Ziel einmal erfaßt war
und es nichts mehr zu verändern gab, darauf achten sollte, lediglich den einen
Schußfinger zu benutzen, um das Risiko einer Verrückung zu minimieren. - Denn
im Unterschied zu der aus emotionslosen Materialien bestehenden Waffe war der
Schütze nun mal aus Fleisch und Blut und mit einem anfälligen Nervensystem
versehen: Er schwitzte, zitterte, spürte den Windzug, vernahm den Schrei eines
Vogels, vernahm, vor allem in ungünstigsten Momenten, die Stimme seines Gewissens.
Zehn Finger waren sehr viel eher moralischen Bedenken ausgeliefert als der eine
entschlossene Schußfinger. Mehr brauchte es im Moment des Abfeuerns einfach
nicht.
    Sami nahm das Gewehr und postierte es auf der
fensterabgewandten Seite des Tisches, und zwar so, daß der Lauf der Waffe nach
draußen zeigte, hinüber ins Grün und am Grün vorbei auf eine Häuserreihe. Den
Kolben plazierte er auf einem Stapel Bücher und begann, die Zieloptik
einzustellen. Dabei betonte er: "Entweder Sie lassen beide Augen offen,
oder Sie suchen sich eine Augenklappe. Nie aber ein Auge zudrücken! Das
ermüdet." Nun, das stimmte. Ohnehin war der Scharfschütze ständig Fallen
der Ermüdung ausgeliefert.
    Sami erklärte weiter, daß es sich bei diesem Zielfernrohr
um ein völlig neues Modell handle, und beschrieb nun das Wesen dieses wohl
wichtigsten Teils der Waffe und wie die Einstellungen vorzunehmen seien.
Einigem von dem, was er sagte, konnte Tobik im Grunde nicht folgen, nickte aber
stumm. Er würde wohl gezwungen sein, im Zuge oftmaliger Übung den Geist dieses
Geräts zu begreifen. Tobik besaß einen guten Platz zum Üben, ein kleines,
entlegenes, ziemlich verfallenes Haus auf einem besonders unwirtlichen Teil
der Schwäbischen Alb, das er geerbt hatte, mit dem er aber bislang nichts hatte
anfangen können. Nun jedoch erkannte er den Sinn dieser Erbschaft. - In der
Regel gibt es sowieso nichts Sinnloses, sondern nur Dinge, die sich, vorerst
noch, in beträchtlicher Distanz zu ihrem Sinn aufhalten. Im Leben fehlt eben
oft ein Zielfernrohr, fehlen die optischen Linsen, die ein Gebilde so
heranrücken lassen, daß die Verbindungslinie erkennbar wird.
    "Schauen Sie mal durch", empfahl Sami, nachdem
er die Justierung beendet hatte.
    Tobik beugte sich herunter und näherte sein rechtes Auge
dem Okular, ohne daß eine Berührung geschehen wäre. Eingefügt in das Fadenkreuz
erkannte Tobik eine Frau ... sie saß ganz still, keine Bewegung, ihr Blick war
auf das Kind gerichtet, das in ihrem Arm lag und an ihrer von einem weißen Tuch
halb verdeckten Brust saugte. Es war wohl mitten im Trinken eingeschlafen, da
es ebenfalls keine Bewegung erkennen ließ. Dennoch wirkte dies alles nicht wie
eine Erstarrung oder Versteinerung von Mutter und Kind, sondern wie ein Innehalten
der Zeit, als sei auch die Zeit mal froh darum, wenn Frieden herrscht und man
diesen Frieden etwas in die Länge ziehen kann.
    So viel zum romantischen Aspekt, denn natürlich war Tobik
erschrocken, als er gesehen hatte, welches theoretische Ziel Sami für ihn
ausgewählt hatte. Aber noch während der Schrecken wirkte, betätigte Sami einen
Einstellring und rückte damit den Anblick des Ziels nach hinten, immer ein
kleines Stückchen, so daß sich Tobiks Sehfeld

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