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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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vergrößerte und er nach und nach
begriff, daß es sich bei der Frau und ihrem Säugling um eine Fotografie
handelte, die neben anderen Bildern auf einer Wohnzimmerwand hing. Familienfotos,
Sehenswürdigkeiten, Schnappschüsse. Unterhalb davon befand sich ein Fauteuil,
in dem ein alter Mann saß, der beim Zeitunglesen eingenickt war und deshalb
ähnlich statisch wirkte wie die Fotos über ihm. Allerdings war bei genauer
Betrachtung das leichte Auf und Ab im Zuge seiner Atmung zu erkennen. Dies war
somit kein weiteres Bild, keine weitere Täuschung, sondern der Mann war echt
und leibhaftig und somit in der Lage, erschossen zu werden.
    "Es ist immer ein Bild,
auf das Sie schießen", erklärte Sami, "solange Sie durch eine Optik
schauen. Sie sehen keinen Hasen, sondern das Bild eines Hasen."
    "Das ist kein Hase", zeigte sich Tobik streng,
nahm sein Auge weg von dem Okular und blinzelte hinüber zu dem Haus, konnte
aber nicht viel mehr erkennen als die Flecken einzelner Fenster. Er hätte nicht
einmal ungefähr sagen können, auf welches davon die Waffe gerichtet war. Er
drehte sich zu Sami hin und fragte: "Wieviel verlangen Sie?"
    Der Waffenhändler nahm ein Blatt Papier und schrieb eine
Zahl darauf, die er Tobik zeigte. Dann erklärte er, über diesen Betrag nicht zu
diskutieren. Die Diskretion - und diese sei das eigentlich Kostspielige - sei
im Preis eingeschlossen.
    "Ich will auch gar nicht diskutieren", erklärte
Tobik. "Ich zahle bar und sofort, ich habe genügend Geld dabei."
    "Schau einer an", meinte der Waffenhändler, "Sie
sind gut vorbereitet."
    "Ich versuche immer, die Wege abzukürzen. Es reicht,
wenn man sich ein einziges Mal begegnet. Beim nächsten Treffen hat es schon was
von einer Ehe. Sosehr ich die Ehe für etwas Gutes halte, aber in unserem
Fall..."
    "One night", ergänzte Sami.
    Tobik nickte.
    Zehn Minuten später verließ er das Haus mit dem
Kunststoffkoffer in der Hand und nahm eine Stadtbahn, um den Cannstatter Mond
zu verlassen und zurück in den Stuttgarter Westen zu gelangen. Niemand, der
den Koffer dieses Mannes sah, hätte zu denken vermocht, daß sich darin die
fürsorglich verwahrten Teile eines Präzisionsgewehres befanden, nicht nur
wegen des fehlenden Geigenkastenformats, sondern weil man sich etwas
Derartiges grundsätzlich nicht vorstellen konnte. - Man kann sich so viel
nicht vorstellen. Wenn es dann aber geschieht, geschieht es in der Art eines
Projektils, von dem man getroffen wird, ohne die weit entfernte Waffe und den
weit entfernten Schützen bemerkt zu haben.
     
    Landaus Busen
     
    Rosenblüt stieg aus dem Zug. Er lächelte im Stil der
Leute, die sich fragen, ob sie jetzt eigentlich glücklich oder verzweifelt
sind, während sie eigentlich wissen müßten, daß beides der Fall ist. Und in der
Tat erlebte Rosenblüt bei aller Aversion, die er diesem Ort gegenüber hegte,
gleichermaßen ein Gefühl seligmachender Heimatliebe. Er empfand den Boden unter
seinen Füßen als vertraut, geradezu verwandtschaftlich. Stimmt, seine Eltern
waren tot, seine Geschwister längst an anderen Orten, die meisten Kontakte
verflogen, aber dieser Erde - auch wenn diese Erde im Moment ein Bahnsteig war
- entströmte ein irdischer Atem. Es war Rosenblüt, als werde er auf die Wange
geküßt, freilich ohne eine wirkliche Berührung von Lippen, denn ein Bahnsteig
mit Lippen, das hätte nun ein wahrlich wunderliches Bild ergeben. Nein, dieser
Kuß war ein bloß gehauchter, wie man das tut, wenn man sich in die eigene
Handfläche küßt und den solcherart aufgesetzten Lippenabdruck dem Zielobjekt
entgegenbläst.
    Wie gut, daß Rosenblüt jetzt alleine war und diese gewisse
Innigkeit mit dem wiedergefundenen Ort seiner Kindheit und Jugend und den
vielen Jahren seines Polizistenlebens ungestört blieb. Er hatte darauf
bestanden, nicht abgeholt zu werden. Schlimm genug, daß ihm für seine
Ermittlungsarbeit eine Stuttgarter Kollegin zur Seite gestellt wurde. Eine
Kollegin, um die er nicht gebeten hatte und die ja ganz sicher nicht beauftragt
war, Amtshilfe zu leisten, sondern ihm über die Schulter und auf die Finger zu
schauen.
    Richtig, die Stuttgarter Staatsanwaltschaft war aus vielen
guten Gründen nervös ob Rosenblüts Auftauchen. Man empfand es als einen
Affront, daß ausgerechnet ein Mann, den man aus der Stadt geworfen hatte,
hierher entsandt wurde. Als eine typische Bösartigkeit der Münchner, die sich
keine Chance entgehen ließen, das als Provinznest verachtete Stuttgart zu
demütigen. Denn

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