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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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sprach Thiel durch die Nase, wandte sich
um und holte eine Klarsichthülle vom Tisch. Darin ein Foto. Das Loch in der
Mitte der Fotografie machte deutlich, daß es sich um jenes Bild handelte, durch
welches das Projektil geflogen war, bevor es im Mauerwerk endgültig seine Bahn
beendet hatte. Thiel hielt Rosenblüt die Farbaufnahme entgegen. Der Kommissar
nahm sie. Was er darauf sah, war eine Gruppe von Männern, fünf an der Zahl, eng
nebeneinanderstehend, alle in karierten Hemden, ausflugsmäßig, blauer Himmel
im Hintergrund, wehendes Haar, wobei der Mann in der Mitte des Bildes seine
Arme links und rechts um die Schultern der anderen gelegt hatte. Doch eben
dieser Mann war nicht zu erkennen, zumindest sein Gesicht nicht, da die
Gewehrkugel genau dort in das Papier eingetreten war, wo sich der Kopf dieser
zentralen Person befunden hatte.
    "Na und?" fragte Rosenblüt, weil es schließlich
geschehen konnte, daß eine Kugel, die den Kopf eines angepeilten Mannes
verfehlte, im Kopf eines anderen landete, auch wenn dieser nichts weiteres darstellte
als die Projektion auf einem Stück lichtempfindlichem Papier.
    "Können Sie sich denken, wer das ist?" fragte
Doktor Thiel. "Ich meine den, bei dem das Loch durch den Kopf geht?"
    "Woher sollte ich das wissen?" fragte Rosenblüt
zurück. "Oder glauben Sie, ich würde sein Hemd wiedererkennen? - Sagen Sie
bloß nicht, es ist der, den die Kugel verfehlt hat und der also doch noch
getroffen wurde, wenn auch nur auf einem Schnappschuß."
    "Falsch", äußerte Thiel und zeigte auf den
jungen Mann links außen auf dem Foto, bei dem es sich um den
Verschontgebliebenen handelte. Während der, durch dessen fotografiertes
Gesicht das Projektil gedrungen war... nun, es war der Projektsprecher von
Stuttgart 21.
    An dieser Stelle hätte Doktor Thiel natürlich den Namen
dieses Mannes in den Mund nehmen müssen, einen Namen, den ja nun wirklich
jedes Kind in der Stadt kannte und der so viel Zorn und Spott auf sich zog.
Aber es schien, als ob auch Doktor Thiel ein Problem damit hatte, den
personifizierten Anziehungspunkt kollektiver Ablehnung bei seinem richtigen
Namen zu nennen. Es war wie in einem Buch oder Film, wenn aus rechtlichen Gründen
darauf verzichtet wird, die Namen von lebenden Personen zu verwenden. - Gut,
Thiel war nicht Autor, sondern Polizist, zudem über jeden Verdacht erhaben, der
falschen Seite anzugehören, dennoch erklärte er jetzt, es wäre ihm lieber,
dem Projektsprecher einen anderen Namen zu geben, wenn man sich über den
unterhalte.
    "Gerne", sagte Rosenblüt, "wie wäre es mit
Bill Bo?"
    Nun, Bill Bo, der Anführer einer Räuberbande aus der
Augsburger Puppenkiste, war dem kinderlosen Thiel unbekannt, weshalb er diesen
Vorschlag mit einem schiefen Lächeln quittierte und einen eigenen Vorschlag
machte, der ganz unmittelbar damit zusammenhing, daß er kurz zuvor im Norden
Englands auf Urlaub gewesen war. Er fragte: "Was halten Sie von York?
Können wir uns darauf einigen?"
    "Wieso York? Sehr schwäbisch klingt das nicht."
    "Keine Ahnung", gestand Doktor Thiel. "Das
ist mir gerade so eingefallen."
    "Na, von mir aus. Ist ja egal, wie wir ihn nennen",
gab sich Rosenblüt großmütig. "Wichtiger wäre, daß wir zum Punkt kommen."
    "Natürlich", sagte Thiel. "Also: Ich habe
mir die Frage gestellt, wie man diese ganze Sache betrachten muß, wenn man
davon ausgehen will, bei dem Schützen handle es sich gar nicht um einen schlechten, sondern, im Gegenteil, um einen guten Schützen.
Clever genug, im richtigen Moment zuzuschlagen, präzise genug, unter welchen
Bedingungen auch immer nicht zwei oder mehr Meter danebenzuschießen,
eigensinnig genug, nicht ein Foto zu treffen, will man einen Mann treffen. Wenn
wir das einmal annehmen, müßte das doch eigentlich bedeuten, daß dieser
vermeintlich schlechte Schuß zu keiner Sekunde dem Mann in dieser Wohnung
gegolten hat, sondern dem Mann auf der Fotografie. Daß dieser Schuß nur
abgegeben wurde, um uns zu zeigen, wozu der Schütze in der Lage ist und was er
vorhat. Nämlich York zu töten."
    "Das wäre dann aber ganz schön verschlüsselt",
merkte Rosenblüt an.
    "Finden Sie wirklich?" erwiderte Thiel.
    Nun kamen auch Rosenblüt angesichts der Umstände leise
Zweifel: Da waren die so überaus präzise Einschußstelle auf dem Foto - der Kopf
war vollständig zerfetzt - sowie das Faktum, daß eine 7,62-x-51-mm-NATO-Patrone
verwendet worden war, eine spezielle illegale Variante, die auf dem Hülsenboden
sowie auf dem

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