Steirerblut
Gebieten durchlaufen, und dennoch war sie nicht in der Lage, den eigenen Partner, mit dem sie tagtäglich zu tun hatte, einzuschätzen. Sie war psychologisch darauf getrimmt, Mörder zu verhören, einer Mutter mitzuteilen, dass ihr Kind bestialisch ermordet wurde, und sie schaffte es sogar, nicht selbst an der Brutalität auf der einen und dem Leid auf der anderen Seite zu zerbrechen. Doch Bergmann war und blieb ihr ein Rätsel.
Wenigstens hatte er sich bei ihr entschuldigt, versuchte sie etwas Positives zu finden. Dieser Schritt musste ihn jede Menge Überwindung gekostet haben, vermutete sie. Aber was wusste sie schon über diesen Mann? Dabei kaufte sie ihm seine dürftige Ausrede vom verpassten Zeitpunkt sogar ab. Genau genommen war das gar keine Ausrede. Bergmann hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, eine solche zu finden. Aber vielleicht glaubte sie ihm gerade deswegen, überlegte sie weiter.
Als Andrea sich leise schnaufend umdrehte, beschloss Sandra aufzustehen. An Schlafen war ohnehin nicht mehr zu denken. Nur wenig später saß sie mit einer Tasse Tee an ihrem Laptop und arbeitete sich durch die E-Mails, die Bergmann und Eva Kovacs einander geschrieben hatten. Sandra wusste selbst nicht, wonach sie genau suchte, doch vielleicht verbarg sich irgendwo ein brauchbarer Hinweis, ein kleiner Stein in dem großen Puzzle, das es endlich zusammenzusetzen galt. Möglicherweise fand sich etwas, das ihr noch mehr über die Kovacs oder über Bergmann verriet. Die Korrespondenz der beiden war jedenfalls sehr direkt in der Wortwahl, dennoch nicht ganz so vulgär, wie Sandra es befürchtet hatte. Von Gewalt fehlte jegliche Spur. An Bergmanns sexuellen Fantasien ließ sich soweit nichts Abartiges erkennen. Im Gegenteil. Bei so mancher Zeile musste sie die eigene aufkeimende Lust verdrängen, indem sie sich immer wieder in Erinnerung rief, wer diese E-Mails geschrieben hatte: das spätere Mordopfer, dessen malträtierter Anblick sich für immer in Sandras Gedächtnis eingebrannt hatte, und ihr mysteriöser Kollege Bergmann. Am 15. Januar dieses Jahres hatte Eva Kovacs ihn um ein Video gebeten, das ihn beim Onanieren zeigte, verriet ihr die letzte E-Mail. Er sollte das Video auf die Plattform stellen, damit sie und die Community sich daran aufgeilen konnten. Die Kovacs liebte es angeblich, Männern dabei zuzusehen, wie sie es sich selbst besorgten. Ihrer Bitte war Bergmann nicht nachgekommen, woraufhin der Kontakt zwischen ihnen abgebrochen war. Jetzt erinnerte sich Sandra auch wieder an den im Clinch-Artikel erwähnten ›Sheriff‹. Die Journalistin hatte ihn in die Gruppe der Verbalerotiker eingereiht, die in realen sexuellen Beziehungen nicht ihren Mann stehen konnten. Zumindest was Bergmann betraf, hatte sie sich da wohl getäuscht, vermutete Sandra. Mit Petra Schreiner war der Sex allem Anschein nach doch sehr real gewesen, wenn sie Max’ Bericht und dem eigenen Eindruck am Korridor der ›Goldenen Gans‹ Glauben schenken durfte. Aber was durfte sie überhaupt noch glauben? In dem Telefongespräch unmittelbar vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ihr Bergmann versichert, dass die bisher befragten Kontakte der Kovacs keinen neuen Verdacht ergeben hätten. Stimmte das? Oder hatte er mögliche Hinweise, die ihn belasteten, bereits unter den Teppich gekehrt? Am liebsten wäre Sandra sofort in Bergmanns Wohnung gefahren, um ihn noch ausführlicher zu befragen. Doch um halb fünf Uhr morgens war das keine besonders gute Idee. Noch dazu, wo sie annahm, dass ihr Partner das Bett mit der Inhaberin jener Frauenstimme teilte, die sie bei ihrem letzten Telefongespräch im Hintergrund vernommen hatte. Sandra entschied, sich in den LKA-Server einzuloggen und nach den Log-Files von Eva Kovacs’ E-Mail-Verkehr zu suchen. Nachdem sie nichts dergleichen finden konnte, ging sie noch einmal die gesammelten digitalen Daten der Akte Kovacs durch. Und plötzlich keimte eine Idee in ihr auf, die sie nicht mehr losließ. Wie hatte sie das nur übersehen können? Aufgeregt griff Sandra nun doch zu ihrem Handy. Bergmann würde den frühen Anruf schon verkraften. Und die Kollegen von der Spurensicherung waren an Einsätze im Morgengrauen ebenfalls gewöhnt. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren, wenn sie den Mord an Eva Kovacs endlich aufklären wollten.
Dass sie krankgeschrieben war, hatte Sandra längst vergessen, als sie vierzig Minuten später neben Bergmann ins Auto einstieg. Er war tatsächlich kein besonders guter
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