Steirerherz
schlug bis zum Hals. Alle
Augen waren auf sie gerichtet, während sie sich dem Tisch näherte und den Moment,
der unmittelbar bevorstand, verfluchte.
Pias Mutter brach sofort in Tränen aus. Der Vater wirkte wie versteinert
und hörte sich die wenigen Fakten an, die Sandra bekanntgab. »Wo ist die Pia jetzt?«,
fragte er leise.
»Oben. Im Weingarten.«
Der stattliche Mann stöhnte auf,
ehe auch er bitterlich zu weinen begann.
Miriam sah
aus, als würde sie ebenfalls mit den Tränen ringen. Das fehlte gerade noch! Sandra
war froh, dass sie sich momentan selbst ganz gut beherrschen konnte, obwohl sie
diese Situation alles andere als kaltließ. Sie gab der Kollegin ein diskretes Zeichen,
nach draußen zu verschwinden, und zwang sich, an etwas Schönes zu denken. Einmal
mehr kam ihr die Nacht mit Julius in den Sinn, und sie beschloss, ihn noch am selben
Tag anzurufen. Nicht nur, um seine Stimme wiederzuhören. Das Leben war einfach zu
kurz, um irgendetwas auszulassen, was Spaß machte und niemandem wehtat, rief sie
sich den Leitspruch ihrer Freundin ins Gedächtnis. Wie recht Andrea damit hatte,
wurde ihr durch Pias frühen Tod gerade eben wieder vor Augen geführt.
»Es tut mir wirklich sehr leid«,
sprach Sandra die Eltern an, um ihren bevorstehenden Abgang vorzubereiten. Es war
höchste Zeit, dass sie wieder an den Tatort zurückkehrte, um vielleicht anhand erster
Spuren neue Hinweise zu erhalten. Soeben stieg auch Frau Doktor Kehrer aus ihrem
Wagen, wie Sandra durch das Fenster beobachten konnte. Sie wollte aufstehen, als
Pias Mutter von ihrem Taschentuch aufblickte und sie ansah. »Und Sie sind sich wirklich
sicher, dass es unsere Pia ist?«
»Ich habe Pia
persönlich gekannt, sie ist es zweifellos – leider«, bestätigte Sandra. Wieder verlor
Frau Fürnpass den Kampf gegen die Tränen. Erst vor Kurzem hatte ihre Tochter um
die tote Freundin geweint, erinnerte sich Sandra nur allzu gut. Jetzt lag sie selbst
tot im Weingarten, und ihre Familie trauerte um sie. In solchen Momenten hasste
sie ihren Beruf wahrlich.
Sandra ging
davon aus, dass die Winzertochter ein weiteres Opfer desselben Mannes geworden war,
der Valentina ermordet hatte. Trotzdem der Täter diesmal anders vorgegangen war,
ließen sich doch Gemeinsamkeiten erkennen: Beide Mädchen waren die Töchter von Landwirten
aus derselben Region gewesen. Beide hatte man auf dem Boden ihrer Väter – kaum mehr
als 15 Kilometer voneinander entfernt – tot aufgefunden, selbst wenn sie längst
von zu Hause ausgezogen waren und in der Landeshauptstadt lebten. Fast konnte man
den Eindruck gewinnen, als wären sowohl Valentina als auch Pia heimgekehrt, um zu
sterben. Aber warum? Und warum stellte ihr Mörder sie dermaßen aus?, fragte sich
Sandra wieder und immer wieder. Was wollte der Täter mit der auffälligen Inszenierung
seiner Opfer aussagen? Wenn er die Mädchen für etwas bestrafen wollte, wofür? Die
meisten Serientäter wählten ihre Opfer zufällig aus, ohne ihnen vorher jemals begegnet
zu sein. Das machte es so schwierig, ihnen auf die Schliche zu kommen. Doch in diesem
Fall schloss Sandra das Zufallsprinzip eher aus. Die Mädchen waren miteinander aufgewachsen,
hatten zuletzt in derselben Stadt gelebt. Ihr Freundeskreis wies zahlreiche Überschneidungen
auf. Viel wahrscheinlicher war es doch, dass der Täter die Freundinnen absichtlich
ausgewählt hatte. Aber warum? Und wenn Sandra recht hatte, wer würde nach diesem
Muster dann die Nächste sein? Gab es ein weiteres Bauernmädchen, das aus der Umgebung
stammte und das nun in Graz wohnte? Wenn der Mörder seine Opfer tatsächlich kannte
und nach diesem Muster vorging, konnte es doch nicht so schwierig sein, ihn zu finden … Oder waren ihm Valentina und Pia doch zufällig in die Arme
gelaufen? Waren sie bloß zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?
»Können wir
unsere Tochter noch einmal sehen?«, unterbrach Herr Fürnpass Sandras Gedankenkette.
»Sicher. Wenn Sie es wünschen … Ich muss nur mal nachsehen, wie
weit die Kollegen mit ihrer Arbeit sind, dann lasse ich Sie holen. Kann ich Sie
inzwischen hier allein lassen? Es wird gleich eine Psychologin eintreffen, die sich
um Sie kümmert«, versprach Sandra.
»Wir schaffen das auch ohne Seelenklempner«,
meinte der Winzer unter Tränen.
Sandra warf einen prüfenden Blick
auf Frau Fürnpass und war froh, dass Miriam den psychosozialen Notdienst längst
verständigt hatte. Spätestens, wenn die Mutter vor ihrer toten Tochter stand,
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