Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Todesbejahung zugleich. Das Leben liegt im Sagen, in der Prosodie, im Klang, in der Lust am rhythmischen Sprechen. Das Endgültige liegt in der Aussage, auch in der strengen Form. »Beauty is truth, truth beauty« – mehr muss man auf Erden nicht wissen, als in diesen Worten von Keats enthalten. Die Wahrheit des Schönen, die Schönheit der Wahrheit.
Zuallererst ist Poesie Lust – Lust am Wort, am Klang, am Sprechen, an der Form, und erst danach ein Spiel, ein Bekunden der trotzigen Lebendigkeit noch in schwierigen Umständen. Und sie ist ein Zauber. Sie besänftigt, sie zähmt, sie entwaffnet, das hat Stéphane Hessel im Konzentrationslager erfahren, aber auch in anderen kritischen Situationen, denn sie erinnert an andere Sphären, weist über den unmittelbaren Augenblick hinaus, in dem sie, als gesprochenes Wort, doch zur Geltung kommt. Die Poesie steht zwischen den Zeiten und zugleich an der Schwelle zur Zeitlosigkeit.Worauf immer sie verweist, sie macht es lebendig und gegenwärtig im Augenblick des Aufsagens.
Als Wörterlust ist sie an die Sinnlichkeit gebunden, ist immer auch die Lust der Lippen (»diesen Kuss der ganzen Welt«). Helen mahnte ihren Sohn: »Sei nicht so sinnlich!« Aber das war Verbot und Verführung zugleich. Poesie ist immer auch an den Eros gebunden, das wusste die Frau, die sich in Borchardts Melusine spiegelte, sehr genau. Seiner Mutter verdankt Stéphane die spontane, naive, sinnliche Seite der Dichtung; im Gedicht ist er ihr immer noch verbunden.
Die Entscheidung fällt instinktiv: Er findet beim Lesen einen Vers, eine Strophe, die so interessant sind, dass er sie auswendig lernen muss. Er kann die Wörter, die Verse gleichsam schmecken, muss sie in den Mund nehmen, es ist unwiderstehlich, wie
Hyperions Schicksalslied
von Hölderlin:
Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.
Verse wie »Keusch bewahrt / In bescheidener Knospe« aus der zweiten Strophe, muss man sich einfach laut vorsagen. Jede Silbe darin hat einen besonderen Klang, das muss man am Gaumen spüren, was im Deutschen und im Englischen intensiver ist, die französische Dichtung findet Hessel eher zerebral.
Ferner spiegelt sich für Stéphane Hessel in der Poesie seine Liebe zu Paris, und deshalb ist Apollinaire sein Dichter. Auch der war ein Fremder, der Paris zu seiner Stadt gemachthat und dem Rhythmus des Lebens dort, dem Glanz seines Lichtes und den Schicksalen auf diesem Schauplatz in leichten Versen Ausdruck verlieh.
Das
eine
Buch, das er auf die einsame Insel mitnehmen würde, wäre der Gedichtzyklus
La chanson du mal-aimé
von Guillaume Apollinaire. Stéphane musste einfach diesen Dichter lieben, bei dem genau wie bei seinem Vater Franz Hessel die mythologischen Referenzen dicht neben der Wahrnehmung der Welt und dem Liebeserlebnis lagen. Bei den Versen des Gedichtes
La Jolie Rousse
, in die auch Bilder aus des Dichters Kriegserlebnis eingingen, muss Hessel an seine Kameraden in der Résistance denken, an den Kampf, an die Opfer, aber auch an die Hoffnung:
Nous voulons explorer la bonté contrée énorme où tout se tait
– für ihn der schönste Vers der Welt! Die Region des Bösen hatte er erkundet, es blieb und es bleibt immer noch die unendliche Landschaft der Güte zu erkunden. Der Entzivilisierung, der Barbarei blieb nur das entgegenzusetzen: Poesie statt Hass, Güte statt Krieg.
Es ist auch Stéphanes Liebe zum Schicksal, die in den Gedichten mitschwingt: deshalb die Liebe zu Hölderlin, zu Shakespeare. Seine persönliche Glücksphilosophie aber hat niemand besser bedichtet als Goethe, in Stéphanes ganz persönlichem Denkspruch:
Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Aber nie darf man den geheimen Sinn vergessen, den die Gedichte für den Widerstandskämpfer Hessel hatten: Sie waren zunächst Kodierungsbasis, später Gedächtnisstütze und schließlich Beweis für die eigene ungebrochene moralischeund geistige Widerstandskraft an der Schwelle zum eigenen physischen Tod im Lager.
Die Mutter der Poesie ist Mnemosyne, das Gedächtnis. Stimme und Gedächtnis gehören eng zusammen, aber auch Gedicht und Gedächtnis, die Bewahrung der Erinnerung an das Erlebte, das ganz indirekte Formen annehmen kann. Das Gedicht klingt nicht nur wie ein geheimer Code, der bei manchen eine
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