Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
erlebten wir bei den Dreharbeiten auf der Rampe vor dem Lagertor und dann auf dem (leeren) Appellplatz in Buchenwald. Noch im fertigen Film hört man, wie belegt, wie dünn und zitternd die Stimme von Stéphane Hessel ist, der aus diesem Anlass zum ersten Mal wieder an die Stätte seiner Qual und seiner Wiedergeburt gekommen war. Hier muss auch er um Fassung ringen, selbst wenn er sich um Lockerheit bemüht, die Hände in den Taschen, er zeigt nicht mehr das Strahlen, die Glätte, die innere Wärme, die man sonst spürte. Sein Gesicht ist so ernst wie nie, als wäre die Vergangenheit auf seinem Gesicht gespiegelt, dessen tragische Züge und tiefe Falten man erst später auf den Filmbildern erkannte. Im Hintergrund meint man, einen Kuckuck zu hören. Die Aufnahme erfolgte in der schönen Jahreszeit. In einer Szene steht er an einem Fenster im Archiv und betrachtet die Karteikarte, auf der im Oktober 1944 sein Tod amtlich vermerkt wurde.
Im Nachdenken darüber versteht man, was er bei anderen Gelegenheiten sagte, dass auch er nicht an alles rührt, was mit seiner Lagererfahrung verbunden ist. In den Tiefen der Erinnerung lauern dunkle Zonen, in die man sich nicht hinabziehen lassen darf; von ihnen geht immer noch Gefahr aus. Das Leben liegt auf der anderen Seite.
Im Film spricht Stéphane Hessel darüber, was die Erfahrung des Bösen bedeutet. Zwischen den Bäumen auf demEttersberg sitzend, sagt er und denkt dabei an Goethes Distichon von den Lieblingen der Götter: »Ein Liebling zu sein bedeutet, auch das Schlimme hinzunehmen, man ist eben bereit, all dies mitzumachen. Wenn die anderen, wie Sokrates sagt, böse sind, dann ist das für sie schlecht. Es ist doch schlimmer, Böses zu tun, als Böses zu erleiden. Böse zu sein, darüber kommt man schwer hinweg. Das Böse, das man hier gekannt hat, das Buchenwald-Böse, das einfachste Böse, die einfache Brutalität eines Lagers, das ist etwas Oberflächliches, auf der Oberfläche aller Gesellschaften gibt es dieses Bellen, dieses Bösesein. Wenn etwas Böses einen betrifft, dann sagt man sich im Sinne von Goethe, das Böse ist auch ein Teil von dem, was die Götter uns schenken. Wenn die Götter uns nur Gutes schenken würden, dann wären wir ihr Liebling nicht. Dann wären wir ein glücklicher Mensch, der in der Welt seine kleine Zeit treibt, das ist schön, aber wenn uns auch das Böse trifft und wir das Böse anschauen und sagen, was tust du mir, was kann ich mit dir treiben, dann wird auch das Böse ein Teil der Erlebnisschichten. Wie ich mein Überleben im Oktober 1944 empfunden habe? Als Erlösung angesichts der großen Spannung davor. Und gleich danach ein Gefühl der Verantwortung. Man fühlt es einfach so, auch dem Michel Boitel gegenüber. Wie kann ich das annehmen, dass er mir sein Leben gegeben hat? Das ist etwas, worüber man nicht leicht hinwegkommt.«
So viele wunderbare Momente erlebten wir bei der Arbeit an diesem Film: auf der Baustelle an dem Ort, wo einst Hitlers Reichskanzlei stand, auf dem Dach des Pariser Kaufhauses La Samaritaine, oben auf dem Triumphbogen in La Défense, auf dem Dach des Institut du Monde Arabe mit dem herrlichen Blick auf Notre-Dame, in der Métro, wo wir eine Lampe abmontierten, im Linienbus 38, auf einem Bateau Mouche, im Garten der Residenz des französischen Botschafters bei der UNO in Genf, wo Stéphane vor einermächtigen Zeder Hölderlin aufsagte … Jede Szene im Film eine wunderbare Erinnerung, vor allem, weil man die Geduld, die Eleganz, die Natürlichkeit, den Mutterwitz von Stéphane erlebte.
Sich in einem Film zu sehen fand Stéphane Hessel seltsam. Es trennt einen vom eigenen Körper, so kam es ihm vor. Er empfindet sich selbst nicht als schön, wenn er sich sieht, aber doch immerhin sympathisch. Sein Körper hat ihn nie im Stich gelassen in all den Jahren, all den Prüfungen. Aber er hat nie Sport getrieben, nur zuweilen im Meer gebadet, dafür aber nie geraucht, anders als seine Mutter, die eine unmäßige Kettenraucherin war und doch sehr alt wurde.
1995 erlebte der Film
Der Diplomat
seine Uraufführung im Rahmenprogramm der Berlinale. Auf verschiedenen Festivals war der Film erfolgreich; nur der deutsch-französische Sender Arte verweigerte die Ausstrahlung. Man verzweifelte ein wenig, dass es damals kaum möglich war, das Besondere dieser Persönlichkeit zu vermitteln. Aber da war er auch noch kein Bestsellerautor, um den sich alle Medien und Veranstalter rissen.
Über die Jahre hinweg habe ich
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