Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
scheint er die Worte zu schöpfen aus einem tiefen Brunnen. Das Göttliche, im antiken Sinne, ist ihm nah, auch die Göttlichkeit der Sprache und des Deklamierens. Das Wunder, dass die Sprache in ihrer »weiten Botschaft« über die Hinfälligkeit alles Menschlichen hinausragt.
Terzinen über Vergänglichkeit, das ist alles Reden. Was aber bleibt, sind die Gedichte, sie sind eine besondere Form des Gedächtnisses, eines überpersönlichen gleichsam. Das hat mit Ästhetik zu tun, nicht mit Glauben oder Religion. Dem ist er fern. Stéphanes Festhalten am Leben hat nichts mit Todesfurcht zu tun, der Tod ist ihm immer vertraut gewesen.
Er geht vor mir. / Ich kann ihn immer sehn / und bin doch bange, ihn zu überholen
heißt es in Versen, die Rilke in seinen Jahren in Worpswede schrieb. Stéphane hat immer wieder über den Tod nachgedacht und sprach selbst von einer gewissen Neugier auf den Tod, auf das, was danach kommen könnte. Aber was kann schon danach kommen außer dem völligen Verlust des Gedächtnisses? Das aktive Gedächtnis aber ist nicht allein auf das Gewesene gerichtet, es ist immer auch erfüllte Gegenwart, genossen in der Rezitation.
Stéphane Hessel empfindet ein »besoin impérieux de réciter«, es ist fast ein Zwang, ein natürliches Bedürfnis. Die Poesie ist seine Heimat, seine geistige Landschaft, seine Leidenschaft. Im Gedicht, das man aufsagt, ist man Kind, Sprachlernender und zugleich Erwachsener auf der Ebene der sprachlichen Meisterschaft. Virtuoser Wohlklang und doch auch Sprechlust der Kinder. Deshalb muss man genau sein. Dichtung ist komplex und transparent. Sie betrifft Körper und Geist, Seele und Materie, ist Lust für Mund und Ohr. Die Poesie entspringt aus dem Leben, aber sie transzendiert jedes Schicksal:
No longer mourn for me when I am dead …
Hier stoßen das Alltägliche und das Zeitlose aneinander.
Stéphane Hessel zögert nicht, selbst bei öffentlichen Anlässen oder im Fernsehstudio oder im Beisein von Staatsoberhäuptern Verse aufzusagen. Aber auch in seinem Alltag ist die Poesie präsent. Jeden Tag lernt er neue Gedichte auswendig. Mit ihnen füllt er leere Augenblicke. In der Métro sagt er sie sich innerlich auf, weiß genau, welches Gedicht oder welche Strophe für welche Strecke reicht – ein Shakespeare-Sonettfür zwei Stationen. Falls die U-Bahn nicht stecken bleibt. Lebenszeit in Versfüßen abgeschritten. Paris in Gedichtlängen vermessen. Diesen persönlichen Stadtplan möchte man gerne einmal vor Augen haben.
Stéphane Hessel ist nicht (nur) der Prophet des kommenden Aufstands. Er ist auch der Wiederbeleber der Lyrik als Teil unseres privaten und sozialen Alltags, als Element des Lebens. Wenn es die Popmusik sein kann, warum soll es die Urform des Singens nicht auch sein können, die zugleich die Urform des Denkens und der Feier des Lebens ist, der Lust an der Sprache und also an der Freiheit, der Lust zum Widerstand gegen alles, was uns die Würde und die Lebensfreude rauben könnte.
Ein Film und eine neue Rolle
In den Jahren 1993 und 1994 entstand ein Kino-Dokumentarfilm mit und über Stéphane Hessel. Es war ein Werk von drei Freunden: der Produzentin und Kamerafrau Antje Starost, von Hans-Helmut Grotjahn, der die Koregie und die Interviews führte, und von mir selbst, als Ideengeber und Koregisseur.
Es war das erste Mal, dass Stéphane Hessel seine Geschichte im Zusammenhang und an den wichtigsten Schauplätzen seines Lebens erzählte, die Entstehung des Films bescherte uns wahrhaft unvergessliche Momente. Wir drehten mit Stéphane in Paris, in Berlin, in Genf, in Buchenwald und Weimar sowie in Nordhausen/Dora, aber auch in Burkina Faso, dank der Unterstützung des Präsidenten Blaise Compaoré, der im Film zwei große Auftritte hat. Nur London und New York lagen weit außerhalb unseres Budget-Horizontes. Anregend war der Dreh im Atelier der Bildhauerin Roseline Granet in Meudon, deren Onkel ebenjener MajorLivry-Level war, der 1942 in London unbedingt als Pilot eingesetzte werden wollte, obwohl er eigentlich schon zu alt war. Roseline Granet, die auch die Sartre-Statue im Hof der alten Nationalbibliothek geschaffen hatte, arbeitete im Film an dem Entwurf einer Kopfskulptur von Stéphane Hessel (die leider nie in Bronze ausgeführt wurde); ringsherum hatte man die Typenköpfe aufgebaut, die sie für eine Theaterinszenierung angefertigt hatte, Redner in verschiedenen Posen, in der Tradition von Daumier.
Beeindruckende und sehr bewegende Momente
Weitere Kostenlose Bücher