Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Deutungsmanie erzeugt (statt unmittelbaren Genusses), es ist auch einer. Die Résistance nistet im Herzen der Poesie, ist nicht eine ferne Sphäre jenseits des Alltags. »Mettre de la poésie dans la vie«, Dichtung in den Alltag hineinbringen, so lautet hier das Motto. In den schlaflosen Nächten im Lager freilich, wo man sich auf den Holzkästen, die als Schlafstätten dienten, nicht rühren durfte, konnte man sich die Verse nur innerlich aufsagen. Da half es, sich ein sehr langes Gedicht vorzunehmen, dessen Verse gleichförmig dahinfließen, wie Paul Valérys
Le Cimetière marin
(Friedhof am Meer).
Gerade gegen Leid und Schmerz und Hunger hilft es, wenn man die Kraft hat, ein Gedicht in sich aufrechtzuerhalten. Man empfindet Freude und Stolz. Das Gedächtnis funktioniert noch, und das bedeutet, dass man immer noch ein Mensch ist. Man will sich selbst wiederfinden als jemand, der auch denkt und sich wehrt und nicht nur etwas erleidet. Gedichte haben dabei den Vorteil, dass sie durch Gehirn und Mund gehen, sie bewohnen einen mehr als ein bloßes Bild oder die Erinnerung an Musik, sagt Stéphane Hessel in Bezug auf sich selbst.
Er sei ein alter Diplomat, der die Sprachen liebt: So definierte Stéphane Hessel sich selbst einmal. Durch seine poetische Dreisprachigkeit erwarb er einen sehr konkreten Sinn für die ästhetischen Eigenschaften jeder einzelnen Sprache. Man braucht nur das jeweilige Wort für »Schwelle – threshold – seuil« zu nehmen: Es sind jeweils andere Assoziationen undandere Klangwelten, die hier evoziert werden. Auch die drei Wörter »soupir – Seufzer – sigh« bieten eine schöne Illustration für die Klangeigenheiten der drei Sprachen. Was aus den schluchzend-kratzenden Silben von »Seufzer« herauszuholen ist, zeigt ein Gedicht von Christian Morgenstern:
Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis
und träumte von Liebe und Freude.
Es war an dem Stadtwall, und schneeweiß
glänzten die Stadtwallgebäude.
Der Seufzer dacht’ an ein Maidelein
und blieb erglühend stehen.
Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein und er sank
– und ward nimmer gesehen.
Stéphane Hessel hat sich nie das französische Klischee über die »barbarische«, angeblich unpoetische deutsche Sprache zu eigen gemacht, das in Paris grassiert. Schließlich war Deutsch seine Muttersprache, in der er seine ersten Gedichte lernte. Und noch heute kommt das eine oder andere deutsche Gedicht hinzu. Er liebt die Wörter, ihre Eigenheit, ihre klangliche Substanz innerhalb der jeweiligen Sprache, etwa das Wörtchen »noch« und seine poetischen Qualitäten oder das Wort »Atem«. Und er liebt die Rhythmik der deutschen Lyrik, die fast griechischen Versstrukturen, zum Beispiel bei Hölderlin, während französische Verse sich nicht in klassische Rhythmen fügen wollen. In Versen macht sich jede Sprache auf ihre Weise schön.
Manche Gedichte entfalten für ihn einen ganz persönlichen, biographischen Sinn. Das gilt für die sehr lange, sehr geliebte Ballade
The Raven
(Der Rabe) von Poe. Wenn an jedem Strophenende das schaurige
Nevermore
ertönt, kommt ihm die Nacht von Rottleberode, nach dem gescheiterten Fluchtversuch in den Sinn, als er glauben konnte, dass nunalles zu Ende sei. Die magischen Rilke-Verse mit dem Titel
Orpheus. Eurydike. Hermes
– als handle es sich um eine Dreiecksgeschichte – gehen ihm besonders nahe. Hermes scheitert mit seiner Vermittlung zwischen Leben und Tod, Bewahren und Verlust, aber die Spur ebendieser unmöglichen Überbrückung ist der Geist der Poesie.
Das war der Seelen wunderliches Bergwerk.
Wie stille Silbererze gingen sie
als Adern durch sein Dunkel. Zwischen Wurzeln
entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen,
und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel.
Sonst war nichts Rotes.
Unvermeidlich muss Stéphane bei diesem
Bergwerk
auch an den tödlichen Stollen von Dora denken, aus dem kaum jemand gerettet wurde. Und wie könnte Stéphane nicht an sein eigenes Leben denken bei diesen Versen von unüberbietbarer Eleganz, so leicht, schwebend, fließend, dass man kaum noch nach Sinn fragen möchte:
Den Gott des Ganges und der weiten Botschaft,
die Reisehaube über hellen Augen,
den schlanken Stab hertragend vor dem Leibe
und flügelschlagend an den Fußgelenken;
und seiner linken Hand gegeben:
sie
.
Der Seelen wunderliches Bergwerk
– aus diesen Tiefen holt Stéphane Hessel seine »inwendigen« Verse hervor, wenn er sie darbietet. Leicht nach vorn gebeugt,
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