Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
gefährliche Schwelle erreicht ist. Es ist der Erfolg einer historisch legitimierten Persönlichkeit, die aus einer anderen Epoche stammt, aber sehr präsent ist – und ihres Auftretens in einem bestimmten Moment. Der Erfolg ist das Indiz einer gesellschaftlichen Krise, zumindest eines kritischen Moments der allgemeinen Unzufriedenheit, vielleicht aber auch das Indiz einer Zeitenwende in globalem Maßstab.
Das Büchlein von Stéphane Hessel könnte man ironischerweise vergleichen mit dem kleinen Roten Buch von Mao Tse-tung, das eher als Monstranz und als Gesinnungsabzeichen diente denn als Quelle von Ideen oder Taten; es ist aber kein kommunistisches Manifest. Es ist auch kein Traktat, auf dessen Inhalt oder Form es vor allem ankäme. Es hat eine suggestive Wirkung wie die ganze Person Stéphane Hessel. Es ist das Poetisch-Atmosphärische, was zählt, beglaubigt durch eine bewegte Biographie.
Stéphane Hessel ist ein durchaus politischer Mensch, aber in besonderer Weise. Über jeder Revolte schwebt ein Zauber, die Suggestion von Anbruch und Aufbruch, von Loslösung und neuer Hoffnung: All das schwingt bei ihm mit. Es ist seine Persönlichkeit, die auf uns wirkt: sein Wort, sein Lächeln, seine Sanftheit und zugleich Entschiedenheit. Es ist der Duft der Freiheit, der auf uns wirkt, auch wenn wir das furchtbare Opfer ahnen, das hinter dieser Duftwirkung steht: die Überwindung einer fundamental-furchtbaren Erfahrung. Hessels Aura ist die Poesie, die so viel Trauer und Verlust überwindet.
Hessels Aufruf zur Empörung ist kein oberflächliches Spiel. Dahinter stehen Erfahrung, Erkenntnis, Erlebtes, auch so viel Unsagbares, Liebesgeheimnisse und Demütigungen; und die gefundenen Wörter, die zitierten Verse sind lediglich die Form, all dies einzufangen. Die Botschaft ist: Glück ist möglich, Freiheit ist möglich, Rettung ist möglich: Wir müssen es nur in unsere Hände nehmen. Wir müssen nur unsere Würde verteidigen, allen Gewalten zum Trotz, dann kann es gelingen.
Aber gleichzeitig wird uns etwas bang, denn wir sind nicht Stéphane Hessel, wir stecken nicht in seiner Haut, nicht in seinem Körper, der so viel widersprüchliche Berührung erfahren hat: von Folterknechten und von geliebten Menschen. Er jedoch hat sich nicht gebeugt, er hebt den Kopf, schaut in beide Richtungen: in die Schwärze dervergangenen Nacht und in die Morgenröte von übermorgen.
Die Frage bleibt, warum er in einem bestimmten und sehr vergifteten Konflikt Partei ergreift. Als Diplomat weiß er (und hat es auch gesagt), dass in manchen Situationen das zu genaue Sprechen die Verständigung verhindert, dass man sich annähern, erst allmählich eine gemeinsame Sprache entwickeln muss, ehe ein Vertrag geschlossen werden kann, der einen Konflikt beendet. Der Anreger muss manchmal einseitig sein, muss nur in eine Richtung schauen, im Vertrauen darauf, dass andere für die Antithese sorgen, nach der dann vielleicht eine Synthese möglich wird.
In Frankreich finden Revolutionen im Mai statt oder im Hochsommer. Der Oktober hat es aber auch in sich. Er ist der Monat der politischen Unzufriedenheit in Frankreich, wenn sich nach der langen Sommerpause, dem »Waffenstillstand der Konditoren«, nach der »rentrée«, dem Wiederbeginn von Schule, Universität und gewerkschaftlichen Aktivitäten, wieder die sozialen Spannungen manifestieren. Das Schuljahr bestimmt den Rhythmus des politischen Lebens der Republik, die seit Ende des 19. Jahrhunderts von Lehrern und durch die Schulpolitik geprägt wurde. Besonders spannungsgeladen ist die Stimmung während des kurzzeitigen Vakuums, das im Vorfeld des wichtigsten Ereignisses der Republik entsteht: der Wahl des Staatspräsidenten. Wenn die Unzufriedenheit groß ist, der Frust über nicht gehaltene Versprechen und der allgemeine Überdruss an den jeweils Regierenden ihren Höhepunkt erreichen, eine Alternative sich aber noch nicht abzeichnet, dann ist die Lage explosiv, und es kann zu erstaunlichen Reaktionen kommen.
So war es im Oktober 1980. Einer der bekanntesten Komiker des Landes, Coluche (der eigentlich Michel Gérard Joseph Colucci hieß und Sohn italienischer Einwanderer war) gab bekannt, dass er 1981 für die Präsidentschaftswahlenkandidieren wolle. Das Echo auf diesen Coup war spontan und gewaltig, zumal man nicht wusste, ob er es ernst meinte. Sein soziales Engagement war allgemein bekannt, aber auch seine Respektlosigkeit gegenüber der politischen Klasse und den politischen Sitten.
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