Sterbelaeuten
erste Advent. Die Wintersonne tauchte den Altarraum in milchiges Licht. An den Verzierungen unter der ersten Empore hingen in gleichmäßigen Abständen kleine Strohsterne an roten Bändern. Ein großer Adventskranz schmückte den Chorraum.
Die Gemeinde nahm Platz, um das Orgelnachspiel im Sitzen zu hören. Kirchenmusik wurde in der evangelischen Kirchengemeinde Sulzbach großgeschrieben. Die Sulzbacher waren stolz auf ihre fast vierhundert Jahre alte Orgel. Selbstverständlich wurde das Orgelnachspiel in den Abkündigungen angesagt. Heute war es ein „Andante in D-Dur“ von Mendelssohn-Bartholdy.
Elisabeth spielte gerne ein persönliches Spiel, das darin bestand, anhand des Orgelspiels zu erraten, wer Orgeldienst hatte. Denn von den Bänken im unteren Kirchenraum war der Organist nicht zu sehen, er wurde von dem Balkon der Empore verdeckt. Den Dienst an der Orgel teilten sich Sibylle und Stephanie Heinemann. Sie waren zwar keine Zwillingsschwestern, sahen sich aber so ähnlich, dass es Elisabeth schwer fiel, sie auseinanderzuhalten, wenn sie sie nicht beide gleichzeitig vor Augen hatte. Beide Schwestern waren Mitte dreißig, circa 170 cm groß, schlank. Sie hatten diesen Schneewittchen-Look: blasse Haut mit einer Neigung, leicht zu erröten, schulterlange dunkle Haare und schwarze lange Wimpern. Stephanie war Kirchenvorsteherin.
Neben den Schwestern konnte es natürlich auch noch Johannes Torat an der Orgel sein. Torat war ein B-Musiker, die Schwestern dagegen hatten nur das kirchenmusikalische Diplom C für nebenberufliche Organisten; eine Tatsache, auf die Torat großen Wert legte. Mithin war an einem ganz normalen Adventssonntag nicht davon auszugehen, dass Torat sich die Ehre gab, überlegte Elisabeth. Ihr fiel ein, dass er sowieso Urlaub hatte, Henry hatte es erwähnt.
Heute ließ die Auswahl des Orgelnachspiels keine Schlüsse auf die Person des Organisten zu, da es sich bei dem feierlichen und etwas melancholischen Stück sozusagen um ein kirchenmusikalisches Basic handelte, das zum Repertoire beider Schwestern gehören konnte. Gelegentlich konnte man die Eigenheiten der Organistinnen auch bei den Gemeindeliedern entdecken. Stephanie zum Beispiel hatte eine offensichtliche Abneigung gegen „Dass du mich einstimmen lässt in deinen Jubel, o Herr“. Diesen kirchenmusikalischen Gassenhauer spielte sie in einem Tempo, dass die Gemeinde Gefahr lief, beim Singen aus Sauerstoffmangel ohnmächtig zu werden. In diesem Gottesdienst hatten jedoch auch die Gemeindelieder keinen Aufschluss über die Person des Organisten gegeben und so zog Elisabeth mit den letzten Gottesdienstbesuchern aus der Kirche aus, ohne das Rätsel gelöst zu haben.
Beim Kirchenkaffee im benachbarten Gemeindehaus war Elisabeth dann sicher, dass es Sibylle war, die sich jetzt bei Thomas darüber beklagte, dass er die Kirche übermäßig heizte. Das schade der Orgel; ein Dauerzankapfel zwischen ihr und Thomas. Über Sibylles Kopf fing Elisabeth Thomas’ Blick auf. Er verdrehte leicht die Augen. Mit Stephanie verstand er sich besser. Das lag wohl daran, dass sie Humor hatte und kein Theater wegen der Orgel machte. Außerdem war sie hübsch, überlegte Elisabeth, aber das war Sibylle auch, sie sahen sich ja so ähnlich. Aber ähnlich war eben nicht gleich, und Thomas kam es anscheinend auf die inneren Werte an.
Die Tür des Gemeindesaals sprang auf und knallte krachend gegen einen Tisch, auf dem der Gemeindebrief und andere Blättchen auslagen. Markus und Lukas, Elisabeths und Henrys Söhne, stürmten herein, mit Samuel, dem Küstersohn, im Schlepptau. Das sorgte für einige hochgezogene Augenbrauen unter den Anwesenden, was die Jungs nicht bemerkten.
„Was gibt’s für Kuchen?“, rief Lukas.
Bald waren etliche Stücke Marmorkuchen und Kekse heruntergeschlungen und ihre Überreste zierten das Parkett.
Da kann ich mir mit dem Mittagessen ja noch Zeit lassen, dachte Elisabeth.
„Was gibt’s zum Mittagessen?“, schrie Lukas wie aufs Stichwort, er hatte offensichtlich großes Interesse am Speiseplan für diesen Tag.
„Kann Samuel bei uns essen?“, rief Markus. „Bitte, Mama!“
„Ja, bitte, bitte, Mama“, fiel Lukas ein.
Elisabeth sah Thomas fragend an.
„Du kannst uns nicht jeden Sonntag einladen, ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen.“ Thomas sah peinlich berührt aus. „Außerdem habe ich tolle Raviolidosen gekauft, mit denen kannst du gar nicht mithalten.“
Als Elisabeth und Henry vor fünf Jahren nach
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