Sterbelaeuten
Sulzbach gekommen waren, hatten die Pfarrerskinder sich in Lichtgeschwindigkeit mit den Küsterkindern Samuel und dessen großer Schwester Miriam angefreundet und auch Henry und Elisabeth verstanden sich bald gut mit Thomas. Er hatte zwar seine Eigenheiten und ging nicht gern unter Leute, aber die Arbeit mit Henry und die Freundschaft der Kinder hatten das Eis schnell gebrochen.
„Ach, Unsinn!“, sagte Henry, der dazugekommen war. „Klar kocht Elisabeth scheußlich, aber in guter Gesellschaft kann man das aushalten.“
–
„Bitte hol mir Kartoffeln aus dem Keller“, bat Elisabeth Markus zuhause. „Mach die Schüssel hier ganz voll. Und zwei Gläser Würstchen.“
„Ich komme mit“, rief Samuel. Das Pfarrhaus war ein Quell immer neuer Wunder für alle Kinder, die die Zwillinge und deren sechsjährige Schwester Marlene besuchten. So viele Zimmer. Ein riesiger Dachboden, in dem man herumklettern und von oben in zwei kleine, unbewohnte Kammern hinunterschauen konnte. Und der Keller. Ein richtiges Gewölbe mit mehreren Räumen unter der ganzen Fläche des großen Hauses. Die besondere Attraktion darin war ein echter Luftschutzkeller aus dem Zweiten Weltkrieg, eine kleine Kammer im hinteren Winkel des Kellers mit einer stählernen Tür.
„Ich wette, hier gibt’s einen Geheimgang rüber zur Kirche“, mutmaßte Samuel, der sich eifrig umsah, während Markus die Schüssel mit Kartoffeln füllte.
„Klar, wie in Illuminati.“
„Nee, echt!“, rief Samuel. „Für den Pfarrer und seine Familie, zum Flüchten in die Kirche bei einem Angriff durch die Gegenreformatoren oder Hugenotten.“
„Oder Klingonen“, sagte Markus.
Samuel trat gegen die Mauersteine, um zu prüfen, ob es hinter ihnen hohl wäre. „Hier müssen wir uns mal in Ruhe umsehen, mit Werkzeug.“
„Ja, aber nicht jetzt, wo Mama auf die Kartoffeln wartet.“
Markus lieferte Kartoffeln und Würstchen ab und ging mit Samuel ins Jungenzimmer hinauf. „Weißt du, wo wir uns auch dringend mal umsehen sollten?“, sagte er. „Im Glockenturm.“
„Ja“, stimmte Samuel zu, „unbedingt. Aber das ist nicht so einfach. Vater hat es uns verboten. Wegen den schlüpfrigen Treppen.“ Er verdrehte die Augen. „Und wegen den Schleiereulen, weil wir die stören.“
„Sicher, wenn wir laut polternd die schlüpfrigen Treppen runterfallen.“
„Wir müssen es heimlich machen“, sagte Samuel.
„Was müsst ihr heimlich machen?“ Marlene kam aus ihrem Zimmer und baute sich vor den Jungen auf.
„Dir Regenwürmer ins Bett legen, weil du so neugierig bist“, antwortete Markus.
„Du bist gemein!“ Marlenes Augen füllten sich zuverlässig mit Tränen. Markus war sicher, dass sie das auf Knopfdruck konnte.
„Nein, Mann, jetzt heul nicht, ich hab doch nur ’nen Witz gemacht“, beschwichtigte er seine Schwester schnell. Nicht, dass sie zu Mama lief und petzte. „Wir sagen es dir, wenn es so weit ist, vielleicht kannst du ja Schmiere für uns stehen“, fügte er hinzu und sah nervös rüber zu Samuel, der hinter Marlenes Rücken herumtanzte und mit beiden Zeigefingern an seine Stirn tippte. Marlene war jedenfalls einigermaßen besänftigt.
„Aber ihr macht nichts richtig Schlimmes?“, vergewisserte sie sich, „nicht dass Gott wieder eine Sintflut schickt oder Mama vier Wochen Fernsehverbot erteilt.“
„Mann, Marlene, er hat gesagt, er schickt keine mehr. Und schon gar nicht wegen uns“, erklärte Markus entnervt. Fernsehverbot musste man einkalkulieren, sonst konnte man ja gar nichts mehr unternehmen.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, klang es von der Treppe. Es war Miriam, Samuels dreizehnjährige Schwester. Markus starrte Miriam an und wurde rot.
„Elisabeth sagt, wir sollen zum Essen kommen“, sagte Miriam.
„Isst du auch mit uns? Juhu!“ Marlene lief auf Miriam zu und umarmte sie.
Miriam war bei allen Pfarrerskindern sehr beliebt. Sie hatte Unmengen schwarzer Korkenzieherlocken, ihre blauen Augen strahlten meistens fröhlich und sie hatte in den vergangenen Wochen so eine Art Busen bekommen, wie Markus bemerkt hatte. Miriam trainierte zur gleichen Zeit Leichtathletik wie die Jungen und lief ihnen allen meilenweit davon. Das brachte ihr eine Menge Respekt ein. Außerdem war sie lustig und verpfiff nie jemanden. Jetzt nahm sie Marlene huckepack auf den Rücken und trug sie die Treppen hinunter. Markus und die anderen folgten ihr in die Küche, wo die Kinder aßen.
Elisabeth, Henry und Thomas zogen sich mit ihren
Weitere Kostenlose Bücher