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Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman

Titel: Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dibdin
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alles, was das Leben zu bieten hatte, bis zum letzten Tropfen in sich aufzusaugen, und es blieben nur noch wenige Tage, bevor er nach Hause fahren musste, zurück in die Schule und in sein Alltagsleben. Es wurde Zeit, dass er endlich seinen Willen durchsetzte.
    Bisher hatte Emanuele das Programm über sich ergehen lassen, das sein Vater so liebevoll entworfen und organisiert hatte. Es umfasste jeden Aspekt des Monats, den sie gemeinsam verbrachten, größtenteils in Form von Tagestouren zu Kirchen und Burgen, langen Bergwanderungen und detaillierten Führungen durch Orte, an denen sich angeblich antike griechische Städte befunden hatten, von denen aber praktisch so gut wie nichts mehr übrig geblieben war. Der gestrige Tag war dem langweiligen und scheinbar endlosen Ödland des Marchesato di Crotone gewidmet gewesen, das wie üblich auch durch die Kommentare seines Vaters über das historische System der Latifundien auf den riesigen Landgütern nicht lebendiger wurde. Diese Landgüter hatten sich einst über die gesamte Region erstreckt und ihren herzlosen Grundbesitzern wie der Familie Calopezzati ebenso riesige wie unverdiente Profite eingebracht.
    Auf unklare Weise, die auf eine Einsicht hindeutete, die er noch gar nicht haben wollte, war Emanuele bewusst, dass seine Besuche in Cosenza für seinen Vater genauso schwierig waren wie für ihn, wenn nicht sogar noch schwieriger. Seine Eltern lebten seit zehn Jahren getrennt, und er hatte längst aufgehört, das Bett zu nässen oder in dunklen Ecken zu weinen. Er war jung und robust und verfügte über einen gesunden Egoismus, aber er wusste, dass seine Mutter immer noch unter der Trennung litt, nicht weil sie seinen Vater so sehr vermisste, wie er selbst das einst getan hatte, sondern weil sie sich immer noch schuldig fühlte wegen des Schmerzes, den sie beide ihm zugefügt hatten. Er nahm zwangsläufig an, dass sein Vater sich ebenso schuldig fühlte und dass er mit diesem strapaziösen Bildungsprogramm seinem Sohn nicht den Besuch in Cosenza verderben, sondern dafür sorgen wollte, dass sie ständig beschäftigt waren, damit keine peinlichen Pausen aufkamen, in denen die großen dunklen Fragen, die im Hintergrund lauerten, sich nach vorne drängen und Antworten fordern könnten.
    Trotzdem führte das dazu, dass Emanuele sich fühlte, als hätte die Schule bereits wieder begonnen. Als er zehn war, war das ja gerade so akzeptabel gewesen, vielleicht sogar noch mit vierzehn, doch nun war die Zeit vorbei, da er sich auf diese Weise mit einem weit zurückliegenden Ereignis auseinandersetzen wollte, das sein Leben zwar für immer verändert, heutzutage jedoch keine allzu große Bedeutung mehr für ihn hatte. Ihr Pech, wenn seine Eltern nicht darüber hinwegkamen. Emanuele war jetzt jedenfalls im tiefen Süden in Ferien, fast tausend Kilometer von der Wohnung in Brescia entfernt, wo er mit seiner Mutter lebte. Er wollte sich entspannen, Spaß haben und vielleicht sogar eins von diesen sexy Mädels anquatschen, die er ab und zu durchs Autofenster gesehen hatte, wenn sein Vater nach einem weiteren langen Tag im Museum mit ihm nach Hause fuhr. Genug kulturelle Erbauung, genug Geschichtsunterricht. Er stellte sein Handy auf Klingeln, fingierte ein kurzes angekommenes Gespräch, dann schlurfte er in den Wohnbereich des weiträumigen Apartments an der Piazza del Duomo im Herzen der Altstadt. Sein Vater trank gerade eine Tasse Kaffee und studierte eine Karte.
    »Ah, Emanuele! Ich habe gerade darüber nachgedacht, was wir heute tun könnten. Da bietet sich die Sila Piccola mit einem Abstecher nach Carlópoli an, um die Ruinen des Klosters zu besichtigen, das im zwölften Jahrhundert von den Benediktinern gegründet und später von den Zisterziensern übernommen wurde. Dieser complesso monastico war einst das religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Region, der berühmte Gioacchino da Fiore war eine Zeitlang dort Abt. Das Kloster verlor jedoch später seine Besitztümer und wurde kurz darauf bei einem Erdbeben zerstört …«
    »Ach übrigens, Dad, ein Schulfreund von mir hat gerade angerufen. Er ist auch hier in den Ferien und wohnt in einer Villa am Strand. Er hat gesagt, immer nur Sonne und Sand würden ihn allmählich langweilen, deshalb will er mal nach Cosenza kommen und sich hier ein bisschen umsehen.«
    »Wer ist dieser Junge?«
    »Halt ein Freund. Jedenfalls treffen wir uns in einer halben Stunde, latschen ein bisschen durch die Straßen und gehen irgendwo

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