Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
Situation war widersinnig: Während in den Monaten davor jede noch so aggressive Therapie an ihr erprobt worden war, blieb sie im Sterben ganz auf sich allein gestellt. Hildes Mann hatte sich gegen die Gabe von Morphium entschieden, weil er fürchtete, dann würde sie geistig wegdriften und schneller sterben. Das konnte er nicht ertragen, und Hilde war längst zu schwach gewesen, ihre Wünsche durchzusetzen. Sie starb unter schrecklichen Qualen nach tagelanger Agonie.
Angesichts der lebensverlängernden Hochleistungs-maschinerie, wie sie die moderne Medizin heute bereithält, siegt die Möglichkeit häufig immer noch über die Menschlichkeit. Ich will die Errungenschaften der modernen Medizin beileibe nicht verteufeln, ganz im Gegenteil: Ohne sie wäre ich längst tot. Und ich kenne viele, denen es genauso ergangen ist. Auch meinen Eltern hat sie mehr Lebenszeit geschenkt und ihnen viele Schmerzen und schreckliches Leiden erspart. Aber wie eigentlich immer, kommt es auch hier auf den sinnvollen und verantwortungsbewussten Einsatz der möglichen Mittel an. Ziel kann nicht sein, einen aussichtslosen Kampf zu führen auf Kosten derer, für die man kämpft. Sterben ist kein rein medizinisches Problem, auf das es technische oder pharmakologische Antworten zu finden gilt. Es ist vielmehr eine komplexe, vielschichtige Erfahrung für den Betroffenen und sein Umfeld und braucht deshalb ebenso komplexe Lösungsansätze. Die Medizin soll im Rahmen ihrer Möglichkeiten begleiten, nicht die Führung übernehmen. Irgendwann kommt der Moment, an dem es nicht mehr um Lebensverlängerung um jeden Preis gehen darf, sondern nur noch um einen »würdevollen« Tod.
Wegbegleiter und letzte Hilfe
Nicht weniger wichtig als die Vorbereitung
auf unseren eigenen Tod ist es,
anderen zu helfen, gut zu sterben.
Dalai Lama
Aber wer lindert die Schmerzen, die Luftnot, die Ängste, die uns am Ende unseres Lebens vielleicht befallen? Es soll ja nicht nichts geschehen, aber eben das Richtige, das uns ein weitgehend sanftes, ein humanes Sterben ermöglicht. Einerseits soll das Leiden nicht durch unsinnige Behandlungen verlängert, der Tod nicht quälend hinausgezögert werden. Andererseits sind viele gepeinigt von der Furcht, im Stich gelassen zu werden und am Ende ohne die nötige Versorgung mit ihren körperlichen und seelischen Qualen allein zu bleiben. Zum Glück hat sich hier in den letzten Jahrzehnten einiges getan, dank der Palliativmedizin. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen, die an einer nicht heilbaren, weiter fortschreitenden Krankheit leiden, zu begleiten. Das lateinische Wort »palliare« bedeutet »einhüllen« oder »ummanteln«, und so soll die Palliativmedizin um den Patienten gewissermaßen einen Mantel aus Fürsorge, Wärme und Geborgenheit legen. Menschen sollen die Möglichkeit haben, einen »guten Tod« zu sterben.
Aber was genau ist ein »guter Tod«? Um deutlich zu machen, wo der Fokus palliativer Arbeit liegen soll, hat das amerikanische Institute of Medicine eine Definition dazu vorgelegt: »Ein annehmbarer oder guter Tod ist einer, der frei ist von vermeidbarem Stress und Leiden für den Patienten, die Familie und die Versorgenden; er geschieht im Einvernehmen mit den Wünschen des Patienten und seiner Familie und berücksichtigt anerkannte ethische und kulturelle Werte sowie medizinische Standards.« 18
Auf Palliativstationen gilt es also, physische Symptome wie Schmerzen, Erstickungsgefühle oder Übelkeit und Erbrechen zu lindern, aber auch psychische Leiden, Gefühle von Hilflosigkeit, Enttäuschung und Ängste ernst zu nehmen und aufzufangen. »Es gehört deshalb zu unseren Aufgaben, einen sicheren Rahmen für all das zu schaffen, was für den Sterbenden am Ende seines Lebens wichtig ist, und dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit seelischen Nöten und spirituellen Fragen«, sagt die Palliativmedizinerin Christine Schiessl, die lange an der Universitätsklinik in Köln gearbeitet hat. Dort wurde 1983 übrigens die erste Palliativstation Deutschlands gegründet.
Die Betreuung auf einer Palliativstation ist umfassend, intensiv und sehr individuell, aber anders als auf Intensivstationen eben nicht überwiegend auf medizintechnischer, pharmakologischer Ebene, sondern auf der Grundlage eines vielschichtigen Beziehungsgeflechts. Die Plätze auf Palliativstationen allerdings sind rar, und für eine ambulante Versorgung ist längst noch nicht flächendeckend gesorgt. Auch Christine Schiessl sieht deshalb die
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