Sterben: Roman (German Edition)
Einfamilienhaussiedlungen, Wald, Wasser, Bauland. Als wir das letzte Stück der Strecke erreichten und ich den Tower des Flughafens sehen konnte, suchte ich meine Karte aus der Innentasche und lehnte mich vor, um abzulesen, was das Taxameter anzeigte. Dreihundertzwanzig. Besonders schlau war es natürlich nicht gewesen, ein Taxi zu nehmen, der Bus kostete bloß ein Zehntel, und wenn es etwas gab, wovon ich nicht viel hatte, dann war es Geld.
»Bekomme ich eine Quittung über dreihundertfünfzig?«, sagte ich und reichte ihm die Karte nach vorn.
»Ja, sicher«, sagte er, zupfte sie mir aus der Hand, zog sie durch das Lesegerät, das unmittelbar darauf einen Beleg herausknatterte. Er legte ihn mit einem Stift auf einen Block, den er mir reichte, ich unterschrieb, er riss die zweite Quittung ab und gab sie mir.
»Vielen Dank«, sagte er.
»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Ich hole das Gepäck selbst heraus.«
Obwohl der Koffer schwer war, trug ich ihn am Griff, als ich in die Abflughalle ging. Ich hasste diese kleinen Rädchen, erstens weil sie feminin waren, will sagen, eines Mannes nicht würdig, denn ein Mann sollte tragen, nicht rollen, zweitens, weil sie eine Vorstellung vom Bequemen, von Abkürzungen, Einsparungen, Vernunft abgaben, die ich verabscheute und der ich mich widersetzte, wo immer ich konnte, selbst dort, wo sie am kleinsten und unbedeutendsten war. Warum sollte man in der Welt leben, ohne das Gewicht der Welt zu spüren? Waren wir etwa Bilder? Und worauf sparte man eigentlich, wenn man seine Kräfte sparte?
Ich setzte meinen Koffer mitten in der kleinen Halle ab und blickte zu der Tafel mit den Abflugzeiten hinauf. Gegen fünf ging eine Maschine nach Stavanger, die ich problemlos erwischen würde. Aber auch um sechs. Da ich es liebte, auf Flughäfen zu sitzen, vielleicht sogar noch mehr, als in Taxis zu sitzen, entschied ich mich für den späteren Flug.
Ich wandte mich um und sah zu den Schaltern hinüber. Abgesehen von den drei Schaltern ganz innen, an denen die Schlange chaotisch aussah und lang war und ich anhand der so gut wie ausnahmslos leicht bekleideten Fluggäste und des vielen Gepäcks und der Laune, die so gut war, wie sie es nur nach ein paar Gläsern wird, begriff, dass es per Charter in den Süden ging, herrschte kein großer Andrang. Ich löste das Ticket, checkte ein und bummelte zu den Münztelefonen an der gegenüberliegenden Wand, um Yngve anzurufen. Er ging sofort an den Apparat.
»Hallo, ich bin’s, Karl Ove«, sagte ich. »Der Flieger geht um Viertel nach sechs. Dann bin ich um Viertel vor sieben auf Sola. Kommst du mich abholen?«
»Kann ich machen.«
»Hast du noch was gehört?«
»Nein … Ich habe Gunnar angerufen und ihm gesagt, dass wir kommen. Er wusste auch nicht mehr. Ich denke, wir fahren früh los, dann können wir noch im Beerdigungsinstitut vorbeischauen, ehe es zumacht. Morgen ist ja Samstag.«
»Ja«, sagte ich. »Das klingt gut. Dann bis nachher.«
»Ja, bis nachher.«
Ich legte auf und stieg die Treppe zum Café hinauf, kaufte mir eine Tasse Kaffee und eine Zeitung, suchte mir einen Tisch mit Aussicht auf die Halle und hängte meine Jacke über die Rückenlehne, während ich einen Blick durch den Raum warf, um zu sehen, ob es dort jemanden gab, den ich kannte, und setzte mich.
Der Gedanke an Vater tauchte seit Yngves Anruf regelmäßig auf, jedoch ohne mit Gefühlen verbunden zu sein, immer nur als nüchterne Feststellung. Wahrscheinlich, weil ich darauf vorbereitet gewesen war. Seit jenem Frühjahr, in dem er meine Mutter verlassen hatte, kannte sein Leben nur eine Richtung. Wir begriffen es damals nicht, aber irgendwann überschritt er eine Grenze, und von da an wussten wir, dass alles Mögliche mit ihm passieren konnte, auch das Schlimmste. Oder das Beste, je nachdem, wie man es sah. Ich hatte mir lange seinen Tod gewünscht, aber als mir klar wurde, dass sein Leben möglicherweise bald vorbei sein würde, fing ich an, darauf zu hoffen. Wenn im Fernsehen tödliche Unfälle in seiner Gegend gemeldet wurden, ob nun Brände oder Autounfälle, tote Männer, die im Wald oder Meer gefunden wurden, war mein unmittelbares Gefühl Hoffnung: Vielleicht ist es Vater. Er war es jedoch nie, er kam durch, er lebte weiter.
Bis jetzt, dachte ich und betrachtete die Menschen, die sich in der Halle unter mir bewegten. In fünfundzwanzig Jahren würde ein Drittel von ihnen tot sein, in fünfzig Jahren würden zwei Drittel, in hundert alle tot sein. Und was blieb
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